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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Zeit nicht mehr hier arbeitete, saß am Steuer des Wagens. Die Leute, die von hier weggingen, kamen so gut wie nie zurück. Zudem war er in Begleitung von zwei Männern, die Lynnie noch nie gesehen hatte. Sie wandte sich Doreen zu, aber die Freundin ließ sich immer noch über Mauds im Licht blitzende Brille aus. Lynnie hoffte, von Kate eine Erklärung zu bekommen.
    Lynnie ging nicht zu Kate, nur um ein neues Buch in Empfang zu nehmen; das Buch war Teil einer feierlichen Angelegenheit, die Kate den »Lynnie-Tag« nannte. Allerdings war es Lynnie ein Rätsel, warum – sie ahnte nicht, dass dies der Jahrestag der Nacht war, in der sie alles verloren hatte. Ihr war lediglich bewusst, dass sich ihr Kummer jedes Jahr um diese Zeit verdichtete und ihr ein wenig leichter ums Herz wurde, wenn Kate sie am Lynnie-Tag in ihr Büro einlud und ihr einen Kuchen und ein Buch überreichte. Mittlerweile besaß Lynnie vier Bücher – in letzter Zeit brachte Kate ihr das Zählen bei und übte mit ihr, jede Zahl laut auszusprechen: eins, zwei, drei, vier. Lynnie wunderte sich, dass Kate bei vier aufgehört hatte. Sie sah gern die Sesamstraße im Fernsehen, daher wusste sie, dass die Zahlen bis zehn gingen. Am Morgen, als Kate Lynnie beim Frühstück sah, sagte sie: »Heute ist dein nächster Lynnie-Tag. Bist du bereit, ›fünf‹ zu sagen?«
    Als Lynnie und Doreen um die Ecke des Hauses bogen, sahen sie, dass Clarence und Smokes mit den Hunden durch den Bereich der Jungs schlenderten. Lynnie hielt für einen Moment inne; ihr stockte der Atem. Doreen hingegen redete ungerührt weiter, und Lynnie rief sich ins Gedächtnis, dass sie sich vorgenommen hatte, keine Angst mehr zu haben. Die Wohncottages für das Personal waren geschlossen worden, so dass sich Smokes undClarence nachts nicht mehr auf dem Gelände aufhielten, und solange Lynnie darauf achtete, tagsüber immer in Begleitung anderer zu sein, war sie sicher. Noch immer wurden ihre Glieder starr, wenn ihr die beiden Männer begegneten, und nachts schreckte sie mit trockenem Mund und schwer atmend aus dem Schlaf. Aber die Geräusche, die sie weckten, waren ganz andere als die, die sie in ihrer Erinnerung immer wieder hörte: brüllende Männer, kläffende Hunde, zersplitterndes Glas und zerberstende Möbelstücke; Schreie, die durch den Flur und den Schlafsaal gellten, in dem sie Zuflucht gesucht hatte. Hier! Der Türknauf drehte sich. Nein, nein, nein, nein! Mittlerweile hörte sie, wenn sie mitten in der Nacht aufwachte, nur das Schnarchen und die Stimmen der Mitbewohnerinnen, die im Schlaf redeten, und statt steif vor Angst im Bett zu liegen, dachte sie an die drei Tage in Freiheit. Wie Buddy, nachdem sie die Kleider der alten Lady angezogen hatten, mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis beschrieb und so tat, als würde er ihr einen Ring anstecken, und sie anschließend dasselbe bei ihm wiederholte. Als er dann das Zeichen für sie und das Zeichen für sich selbst machte, wusste sie sofort, was er meinte: Ehefrau, Ehemann. Wenn sie nachts wach lag, vollzog sie diese Gesten für sich, dann konnte sie wieder einschlafen.
    »Da sind wir«, stellte Doreen fest, als sie die Stufen zum Büro-Cottage hinaufstiegen.
    Kate stand vor ihrer Bürotür, als sie das Gebäude betraten. »Hey, Süße«, sagte sie und breitete die Arme aus. Lynnie schmiegte sich an sie, spürte die Umarmung und sog tief den Gardenienduft ein.
    Gleich in dem Augenblick, in dem Kate die Tür aufmachte, um sie in ihr Büro zu führen, entdeckte Lynnie den Kuchen und das hübsch verpackte Buch auf demFenstersims. Beinahe alles war so wie immer: der grüne Metallschreibtisch, die schwenkbare Lampe, die Schreibmaschine, der schwarze Aschenbecher, die beiden grauen Stühle mit geflochtenen Rückenlehnen, die Aktenschränke, auf denen Kates Pflanzen standen, und das Radio auf dem Fensterbrett. Doch in diesem Sommer hatte Kate ein gerahmtes Foto von ihrem neuen Freund Scott auf den Schreibtisch gestellt. Er stand auf einem Spielfeld mit weißen Linien und trug eine dünne Jacke, auf der ein Löwe abgebildet war. Kate hatte ihr erklärt, dass Scott Trainer war und Highschool-Schülern beibrachte, besser Football zu spielen. Etwa um dieselbe Zeit, zu der Kate ihren Scott kennengelernt hatte, fing sie damit an, Lynnie Sprechunterricht zu geben.
    Kate drehte den Schlüssel im Türschloss. Dann tat sie das, was sie immer machte, wenn sie mit Lynnie übte: Sie schaltete das Radio ein. Lynnie mochte die Lieder aus der

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