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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Schindeln verkleideten Häusern und großen Ulmen. Keine fünfzehn Meter entfernt lag in einer Einfahrt ein Zweig, den die vierjährige Julia erspäht hatte.
    »Sie sucht gern nach Buchstaben«, erklärte Martha. Obwohl Pete, ein Mann in den Siebzigern, selbst Großvater war, konnte er nicht folgen. Wie sollte er auch? Zwar hatte er Martha und der Kleinen letzte Woche etwas zu essen gebracht, als sie in Landons Sommerhaus zurückgekehrt waren, doch davor hatte er sie ein halbes Jahr nicht gesehen. Er konnte nicht wissen, dass Martha die sechs Monate genutzt hatte, um Julia das Alphabet beizubringen. Für diese Zeit hatte sie sich in Philadelphia in einem Apartment eingemietet, das ihrem ehemaligen Schüler John-Michael gehörte. Jetzt, Mitte September, entdeckte Julia überall Buchstaben.
    »Darf ich es für meine Sammlung mitnehmen?«, fragteJulia und schaute zu Martha auf. Die braunen, feinen Locken des Kindes leuchteten golden im Licht; Julia hätte lieber glatte Haare, wie manche Frauen, die sie im Fernsehen gesehen hatte – ihres nannte sie »kräuselig«. Martha meinte, sie könne beides haben, wenn sie ein Haarband trüge: Der Ansatz sähe glatt aus, aber eine Lockenkaskade würde bleiben. Julia stimmte ihr wie in fast allem zu.
    Martha schlug vor: »Sehen wir es uns erst einmal an.«
    Sie ließ Julias Hand los. Julia hüpfte voraus. Mit ihrem grünen Kleid, der Wildlederjacke und den Mary Janes war sie viel besser gekleidet als die meisten Leute am Cape Cod, die hauptsächlich Jeans und dünne Jacken trugen. Pete und Martha waren auch leger angezogen. Obwohl Pete längst im Ruhestand war, mochte er nach wie vor die Flanellhemden und braunen Hosen, die ihm bei seiner Arbeit als Zimmermann gute Dienste geleistet hatten, und Martha fühlte sich am wohlsten in Hose, Cordjacke und Tennisschuhen.
    Mit ihrem neuen Schatz lief Julia zu Martha zurück und nahm wieder ihre Hand. »Das ist aber kein sehr großes Y«, urteilte Martha, nachdem sie sich den Zweig angesehen hatte.
    »Aber es ist ein Großbuchstabe«, verteidigte sich Julia. »Und Großbuchstaben sind viel besser als kleine.«
    »Tatsächlich?«, schaltete sich Pete ein. »Darf ich mal sehen?« Er betrachtete den Zweig. »Ja, sie sind besser.«
    »Sogar Rodney weiß, dass sie besser sind.« Julia zeigte auf Petes Hund. »Stimmt’s, Rodney?«
    »Wuff«, antwortete Rodney.
    Alle lachten. Sie hatten sich kennengelernt, als Julia elf Monate alt gewesen war – an dem Tag, an dem Martha mit ihr am Cape Cod angekommen war und Pete die Schindeln auf dem Hausdach seines Sohnes Gary in Ordnung gebracht hatte, bevor der nach Denver abgereistwar. Pete hatte breit gelächelt, als Martha auf ihn zukam, um sich mit ihm und seinem Hund bekannt zu machen. In den folgenden acht Monaten spielte er ihren Berater. Er war am Cape Cod aufgewachsen, hatte jahrzehntelang hier Häuser gebaut und war eine unerschöpfliche Informationsquelle, wenn es um Einkaufsmöglichkeiten, Bibliotheken und Ärzte ging. Mann und Hund schauten jede Woche bei Martha und Julia vorbei. Pete pfiff jedes Mal, wenn er aus seinem Jeep stieg. Martha machte deutlich, wie dankbar sie ihm war, dass er so oft nach ihnen sah, obwohl er doch mit seinen täglichen Besuchen bei seiner Frau im Pflegeheim beansprucht genug war. Er antwortete darauf: »Das ist nur Nachbarschaftshilfe, Matilda.« Doch letzte Woche bei Marthas Ankunft fügte er hinzu: »Ihr wart lange weg, und Kinder wachsen so schnell.« Er schaute ihr in die Augen, und Martha erwiderte: »Es ist so gut, einen alten Freund wiederzusehen.« Sie verschwieg, dass sie es leid war, neue Freundschaften zu knüpfen, nur um nach kurzer Zeit weiterzuziehen. Als Martha ankündigte, dass sie in die Bibliothek zur Vorlesestunde gehen wollten, fragte er, ob er sie begleiten dürfe. Sie freute sich.
    »Weißt du, warum es große und kleine Buchstaben gibt?«, fragte Julia. »Weil die kleinen noch Babys sind. Die Großbuchstaben sind erwachsen. Und sie passen auf die kleinen auf. Wie in einer Familie.«
    »Hast du nicht gesagt, dass die großen besser sind?«, wollte Pete wissen.
    »Das sind sie ja auch. Sie können Auto fahren und Äpfel zu Butter machen, Brot backen und nähen. Sie wissen alles! Baby-Buchstaben wissen nur so viel.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger vor ein Auge, als würde sie einen kleinen Kieselstein inspizieren. Dann legte sie wieder die Hand in Marthas.
    Martha liebte es, Julias Hand zu halten. Früher war sieklein wie eine Eichel, jetzt so

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