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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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wenn sie aus dem kleinen Fenster zum Himmel schaute und an ihren Sohn dachte, der namenlos in seinem Grab lag. Aber ihre Enttäuschung war so unergründlich, dass sie sich nie zu Gedanken formen ließ. Erst als sie Henry und Graciela erlebte, kam ihr in den Sinn, dass sie seit Jahrzehnten das Bedürfnis hatte zu weinen. Gab es hier noch andere, die diesen Kloß im Hals spürten?
    Die Vorleserin hielt ein Buch in die Höhe. Julia strahlte, dann wurde sie ernst, als wäre das Buch die wichtigste Sache der Welt. Sie wird einmal eine gute Schülerin , dachte Martha. Ich muss alles tun, um das noch zu erleben.
    Martha spähte aus den Augenwinkeln zu Pete. Er saß mit seinen kräftigen, schwieligen Händen auf dem Schoß da – der Ehering war sein einziger Schmuck. Er war ein aufrichtiger Mensch. Das hatte er ihr gezeigt, als er am Abend zuvor mit frischer Muschelsuppe zu ihr zum Abendessen gekommen war. Nach dem Essen spielte er mit Julia Karten, und später – unglaublich, aber wahr – spülte er das Geschirr ab, während Martha Julia eine Gutenachtgeschichte vorlas. Als Julia eingeschlafen war, machte Martha ihm eine heiße Schokolade, und sie saßen zusammen und plauderten, während der Mond aufging.
    »Anns Parkinson ist schlimmer geworden«, antwortete er, als sich Martha traute, sich nach dem Befinden seiner Frau zu erkundigen. »Sie kann nicht mehr sprechen. Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen.«
    Martha sagte nichts. Das Schweigen zwischen ihr und Earl war aus Unterwürfigkeit entstanden. In Gesellschaft ihrer Schüler und neuer Freunde setzte sie es ein, um etwas zu verbergen. Andererseits hatte sie in den letzten Jahren gelernt, dass Stille Platz für die Worte anderer schuf – das war wichtig für jene, die einen Zuhörer brauchten. Pete gehörte zu diesen Menschen.
    Er rückte die Platzdeckchen zurecht. Dann sagte er: »Wir haben immer alles zusammen gemacht. Sie führte tagsüber das Geschäft, abends half ich ihr, und als Gary aus dem Haus war, machten wir Ausflüge auf unserem Boot. Jetzt begleitet mich Rodney. Es ist, als würde man eine alte Eichentür durch eines dieser hässlichen windigen Dinger ersetzen, die sie heutzutage herstellen. Ich habe noch eine Tür, mehr aber auch nicht.«
    Sie nickte.
    Er fuhr fort: »Alle sagen, ich wäre der loyalste Ehemann, den es geben kann. Aber – es ist hart, so etwas zu sagen – ich habe mich daran gewöhnt, dass sie nicht mehr da ist.Lange Zeit konnte ich es kaum ertragen. Jetzt frage ich mich selbst: ›Pete, was gibt’s heute zum Essen?‹ Man findet sich nach und nach in ein neues Leben ein.«
    Am liebsten hätte Martha eingestanden, dass sie sich oft fragte, ob sie sich jemals daran gewöhnen würde, als »Matilda« zu leben. Sie wollte darüber reden, dass Earl ihr in vielen Jahren nicht so viel erzählt hatte wie Pete gerade eben. Dass sie nie so ehrlich mit sich selbst gewesen war – bis sie zu einer anderen Martha wurde.
    Hatte Pete auch einen Kloß in der Kehle?, fragte sie sich. In diesem Moment begann die Vorleserin ein Spiel, bei dem die Kinder in die Hände klatschen mussten.
    »Was ist?«, wollte Pete wissen, als er Marthas verstohlene Blicke bemerkte.
    »Oh. Nichts.«
    »Sicher?«
    »Na ja … ich mache mir nur Sorgen wegen Rodney.«
    Pete deutete zum Fenster. Rodney hatte draußen die Vorderpfoten auf das Fenstersims gestellt und starrte in den Lesesaal. »Der beste Freund des Menschen«, sagte Pete mit einem Lächeln. Martha lachte.
    Zwei junge Mütter drehten sich nach ihr um, und ihr wurde bewusst, dass das Klatschen aufgehört hatte. Eine peinliche Situation.
    Sie legte die Hand an die Stirn, trotzdem nahm sie wahr, dass Pete sie mit einem sanften Lächeln bedachte. »Schsch«, zischte er schelmisch.
    Während die salzige Luft kühler wurde und sich das Laub der Bäume golden färbte, wurde Pete zu einem regelmäßigen Begleiter bei ihren Ausflügen in die Bibliothek. Martha freute sich so sehr auf diese Vormittage, dass Wochen vergingen, ehe ihr klar wurde, dass sie jetzt etwas tun konnte, wonach sie sich schon seit Langem sehnte.Seit den ersten unsicheren und angespannten Stunden in Henrys Hotel stellte sich Martha Fragen, über die sie mit niemandem gesprochen hatte und deren Antworten sie nicht kannte.
    Eines Tages rannte Julia in den Lesesaal für Kinder, und Martha hielt Pete zurück und fragte ihn, ob es ihm etwas ausmachte, in Ju-Jus Nähe zu bleiben, während sie sich mit einem Buch in die Abteilung für Erwachsene setzte.

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