Die Geschichte eines schoenen Mädchens
groß wie ein Ahornblatt. Könnte Martha doch nur die Zeit auch so festhalten wie diese kleine Hand!
»Was ist das?«, fragte Julia. »Dieser Vogel, der mit dem Schnabel gegen den Baum schlägt?«
»Dieser Vogel heißt Specht – Woody Woodpecker ist auch ein Specht.«
Julia lachte wie Woody in den Cartoons. »Und was ist das für einer, Mr. Pete? Der rote da oben?«
»Ein Kardinalsvogel.«
»Er ist hübsch.«
Martha setzte hinzu: »Und er ist anders als die meisten anderen Vögel.«
»Weil er rot ist?«
»Ja, das auch. Kardinalsvögel sind außerdem eine der wenigen Tierarten, die …« Martha zögerte. Wenn sie von einer »lebenslangen Partnerschaft« sprach, würde sie einer Diskussion über Mommys und Daddys Tür und Tor öffnen. Es war schon schlimm genug gewesen, als Julia vor ein paar Monaten aus heiterem Himmel gefragt hatte, ob sie auch eine Mommy und einen Daddy hatte. Martha, die die Kleine gerade nach dem Baden abtrocknete, war absolut nicht auf dieses Thema vorbereitet. Langsam und ohne auch nur ein Wort zu viel zu sagen, machte sie Julia klar, dass ihre Eltern gestorben seien, als sie noch ganz klein war. »Sie haben dich sehr geliebt. Deshalb haben sie mich gebeten … deshalb wollten sie, dass dich jemand adoptiert. Sie haben sich gewünscht, dass jemand für immer für dich sorgt, jemand, der dich so sehr liebt wie sie.«
Julia wollte wissen: »Dann kann ich meine Mommy und meinen Daddy nie sehen?«
Martha nahm sie in die Arme und hoffte, dass niemals jemand, der ihre erfundenen Geschichten hörte, die Lücken füllte. »Ich bin da, Ju-Ju«, sagte sie.
Während sie nun beobachtete, wie der rote Vogel auf einen Ast flog und sein lebhaftes Lied begann, brachte Martha die zweite seltene Eigenschaft des Kardinals zur Sprache. »Die meiste Zeit singen die Männchen ganz komplizierte Lieder, und die Weibchen singen gar nicht. Aber manchmal, wenn ein Männchen singt und das Weibchen seines Herzens in der Nähe ist, stimmt sie mit ein und singt gleichzeitig mit ihm dieselben Töne. Das macht es leichter für sie, sich zu finden. Und etwas Schöneres hast du noch nie gehört.«
»Ist das wahr?«, fragte Pete.
»Ja. Diese Vögel erkennen sich an ihren Stimmen.«
Der Kardinal zwitscherte, aber keine zweite Stimme begleitete ihn.
»Er ist allein«, stellte Julia fest.
Sie bogen um die Ecke und standen vor der Bibliothek. »Wir sind da, Ju-Ju.«
»Schaut mal, was ich gesammelt hab.« Julia zeigte ihnen die vier Zweige, die sie auf dem Weg hierher aufgelesen hatte: Y, I, T und V. »Kann man damit ein Wort machen?«
»Nicht ganz«, antwortete Pete.
»Ich wette, sie ergeben ein dummes Wort«, meinte Julia. »Eines wie Ooga-Booga oder so was.« Sie lachte. »Grammy, steckst du die in deine Tasche, damit wir sie nach Hause mitnehmen können?« Sie gab Martha die vier Buchstaben, die kein Wort ergaben. Dann hüpfte sie über den gepflasterten Gehsteig zum Eingang der Bibliothek.
Martha sah Pete an. »Du musst nicht mit hineingehen«, sagte sie.
»Ich fahre erst um drei Uhr zu Ann. Das hier ist etwas, was Rentner tun sollten.«
»Eine Vorlesestunde mitmachen?«
»Und danach in die Konditorei gehen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Sollen wir?«Wie lange musste sie die Scharade noch aufrechterhalten?
Diese Frage stellte sie sich, als sie und Pete in dem Raum mit den Kinderbüchern Stühle für Erwachsene fanden. Julia ließ sich auf einen Kinderstuhl nieder. Um sie herum war alles normal: Kleinkinder lutschten an Daumen, ältere Kinder waren bestrebt, möglichst reif zu wirken. Mütter ermahnten ihre Sprösslinge, sich anständig zu benehmen, große Geschwister zogen sich mit Büchern ohne Bilder in stille Winkel zurück. Das Einzige, was hier nicht echt war, war die Rolle, die Martha spielte.
Während sie darauf warteten, dass die Vorleserin für Ruhe unter den Kindern sorgte, überlegte Martha, wie viele der anwesenden Erwachsenen Geheimnisse haben mochten. Bis Julia in ihr Leben getreten war, hätte sie gedacht, dass nur wenige zu Täuschungen und Lügen griffen; seit sie sich jedoch selbst in diese Kaste eingereiht hatte, fiel ihr auf, dass sie schon lange ein Ehrenmitglied gewesen war, ohne es zu wissen. Allerdings hatte sie nur sich selbst etwas vorgemacht und sich eingeredet, sie würde ein zufriedenes Leben führen. Natürlich hatte sie gespürt, dass etwas fehlte – das wurde ihr jedes Mal klar, wenn sie im Bett die Hand nach Earl ausstreckte und er sich wegdrehte oder
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