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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Kameramänner sollten kommen, diesmal in aller Offenheit. Als sich Lynnie in den letzten Monaten diesen Morgen vorgestellt hatte, war sie überzeugt gewesen, sie würde Überschwänglichkeit und Ausgelassenheit empfinden – lauter große Worte, mit denen Caitlin diesen Tag beschrieben hatte. Für Lynnie waren sie jedoch noch zu schwierig auszusprechen. Aber Doreens Widerstand gegen die Festivitäten und das folgenschwere Ereignis, das sie begleiteten, dämpfte Lynnies Laune. Doreen hatte kein Geheimnis aus ihrer Einstellung gemacht, als sich herumgesprochen hatte, dass die Schule endlich geschlossen und für alle »neue Arrangements in der Gemeinde« gefunden werden sollten, wie es Mr. Pennington ausgedrückt hatte. »Ich will keine neuen Arrangements«, sagte Doreen. »Ich lebe hier, seit ich eine Woche alt war. Dies ist mein Zuhause.«
    Lynnie verstand sie, aber wie die meisten anderen Bewohner konnte sie es kaum erwarten, von hier wegzugehen. Vielleicht weil sie einst eine Welt außerhalb der hohen Mauern gekannt hatte: Küchenschränke, in denen sie mit Nah-nah saß und sang; Puppen, mit denen sie unter dem Tisch spielte, ein Restaurant, in dem sie schrie: »Burger!« Vielleicht aber auch, weil sie drei wundervolleTage in der weiten Welt erlebt und aus diesem Grund keine Angst vor dem hatte, was sie da draußen erwartete. Da draußen , das war Doreens Bezeichnung dafür, und sie spie die Worte aus, als wären sie verdorbenes Essen. Doch Lynnie wusste, dass sie nur zu verängstigt war, um sie hinunterzuschlucken.
    Es war seltsam, so vieles zum letzten Mal zu machen: Sie ging zum letzten Mal zum Speisesaal, sah zum letzten Mal, wie die Pfleger die Bewohner, die Hilfe brauchten, fütterten. Lynnie fragte sich, was aus all jenen werden sollte. Ihr fehlten schon jetzt Gina und Barbara, deren Eltern sie nach Hause geholt hatten. Wohin würde Timmy kommen? Christopher? Betty Lou? Ihre Familien hatten sich nie blicken lassen.
    Kate meinte: »Die, deren Familien sich eingeschaltet haben, sind besser dran.« Lynnie wollte wissen, warum sich manche Angehörige nicht meldeten. »Dafür gibt es wahrscheinlich viele Gründe«, antwortete Kate. »Aber eines kann ich dir versichern: In jeder dieser Familien gibt es einen, der ein tiefes Loch im Herzen fühlt.«
    »Vielleicht kommen Doreens Eltern zur Parade her«, hatte Bull am Abend gesagt. Doch als Lynnie ihr Frühstück beendet hatte, waren weder Doreen noch ihre Eltern aufgetaucht. Na ja , dachte Lynnie, als sie die Gerüche nach gebratenem Hackfleisch und Rührei hinter sich ließ, Doreen sollte die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn sie immer behauptet, es wäre ihr egal. Wenn es Lynnie fertiggebracht hatte, sprechen zu lernen, dann konnten Doreens Eltern auch ihre Einstellung ändern.
    Lynnie bemühte sich, an schöne Dinge zu denken, während sie zu Kates Büro ging. Sonst hätte sie die Trauer über die bevorstehende Trennung von Doreen übermannt: Da war das Cottage, in dem sie untergebracht war, bis Kate sie gerettet hatte, die Krankenstation, wo sieTonette kennengelernt hatte, das Maisfeld, in dem die Saat gerade aufging. Gegen die Niedergeschlagenheit, die sie dann empfunden hätte, wäre nicht einmal der Zirkus ein wirksames Gegenmittel.
    Lynnie zwang sich, die schrecklichen Plätze zu übersehen und sich stattdessen auf die schöneren Sachen zu konzentrieren – und davon gab es viele. Nachdem Onkel Luke endlich seinen Posten aufgegeben hatte, mussten auch Clarence und Smokes kündigen. Seit sieben Jahren ( Sieben! Sie konnte bis hundert zählen und jede Zahl aussprechen!) konnte Lynnie ohne Begleitung über das Gelände gehen, ohne sich fürchten zu müssen. Nachdem die Regeln gelockert worden waren, durfte sie sogar weite Spaziergänge mit dem Zeichenblock in der Hand unternehmen. Die Farmtiere und der Traktor waren verkauft worden, der Erlös wurde, wie Mr. Pennington sagte, »für neue Anschaffungen« verwendet, aber die leere Scheune und die Ställe waren noch da. Nun sah sie den Weg zu den Farmgebäuden und rief sich ins Gedächtnis, wie froh sie gewesen war, wann immer sie einen Nachmittagsausflug dorthin gemacht hatte. Sie hatte sich vor das rote Scheunentor in die Sonne gesetzt und kleine Geschichten, die sich vor ihren Augen abspielten, gezeichnet: Geschichten über Eichhörnchen, einen Fuchs und Gänse. Hannah behauptete, Lynnie sei eine große Künstlerin, und sie musste es wissen, denn sie hatte nach vielen Jahren in unbefriedigenden Jobs eine

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