Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Kunstgalerie eröffnet. Sie hatte ein paar von Lynnies Bildern nach einem Besuch mitgenommen und ihr später erzählt, dass ihre Kunden ganz begeistert davon gewesen waren.
Lynnies Eltern hatten kaum Kommentare über Lynnies Kunstfertigkeit abgegeben, aber sie hatten sie auch besucht. Ein paar Jahre nach Lynnies Wiedersehen mit Hannah waren ihre Eltern von ihrem Altersruhesitz inArizona hergeflogen. Hannah holte sie vom Flughafen ab, und sie fuhren gemeinsam zur Schule. Sie sahen nicht aus wie die Leute auf dem Foto, das Lynnie aufgehoben hatte, aber sie umarmte sie trotzdem. Auf Hannahs Drängen führte Lynnie die Eltern in der Schule herum; ihre Mutter lächelte verlegen, ihr Vater räusperte sich immer wieder. Als sie ihnen die Bilder zeigte, welche die Kunstlehrerin an die Wand gehängt hatte – eines von einem blauen Pferd mit grüner Mähne, für das Hannahs kleines Plastikpferd, das Lynnie immer noch in dem Beutel aufbewahrte, Modell gestanden hatte –, sagten sie nicht mehr als: »Hübsch.« Die Eltern blieben auch immer einen Schritt hinter ihr. Lynnie fragte sich, warum sie das machten und wieso sie, wenn sie ihnen nahe kam, zurückwichen. Sie nahmen Lynnie mit in ihr Hotel, und da schienen sie ein wenig aufzutauen, aber der Umgang mit der »verlorenen« Tochter fiel ihnen immer noch schwer. »Es war falsch, Lynnie«, sagte Mommy und tupfte mit einem Taschentuch die Augen hinter der Brille ab. Daddy setzte hinzu: »Wir hatten damals keine andere Wahl.« Danach wusste niemand so recht, was er sagen sollte. Lynnie hätte gern von ihren Lynnie-Tag-Büchern gesprochen und davon, wie Horton und Ferdinand und all die anderen sie darauf gebracht hatten, ganze Bilderfolgen zu zeichnen, die Seite für Seite eine Geschichte erzählten. Aber sie kannte nicht genügend Worte, und aus unerfindlichen Gründen war ihr Mund noch verschlossener als sonst. Obwohl sich Hannah alle Mühe gab, die Unterhaltung zwischen allen aufrechtzuerhalten, fühlte sich Lynnie, als hätte sie Kleider an, die ihr hinten und vorne nicht passten. Erst als Hannah den Fernseher anmachte, atmete sie erleichtert auf.
Ihr war klar, dass sie ihre Eltern lieben sollte. Aber wenn sie die beiden ansah, empfand sie nicht dasselbe wie für Hannah oder die Menschen, die ihr hier ans Herz gewachsenwaren: Doreen, Kate, Buddy und das Baby. Sie wusste, dass sie ihre Eltern früher geliebt hatte, aber seither hatten sie sich alle verändert.
Lynnie sah Hannah einige Male im Jahr, aber ihre Mutter und ihr Vater kamen nur noch einmal. Ein paar Jahre nach ihrem ersten Besuch holten sie Lynnie wieder ab und nahmen sie mit. Sie sagten, sie wollten das Passahfest feiern. Im Hotelzimmer warteten Leute, die Lynnie noch nie gesehen hatte – ihre Brüder mit ihren Frauen, wie sie erfuhr. Die Brüder umarmten sie zur Begrüßung, ließen sie aber rasch wieder los. Sie lachten gekünstelt. Alle saßen auf Klappstühlen, und die Frauen stellten in Plastikfolie verpacktes Essen auf den Tisch. Dann schlug einer der Männer ein Buch ohne Bilder auf und las laut vor. Die Geschichte handelte von einem Pharao und von Moses. Lynnie strengte sich an, dem allen zu folgen, doch die Hälfte der Wörter gehörten zu einer anderen Sprache. Daddy sagte immer wieder: »Pass auf, Lynnie.« Und Mommy ermahnte sie: »Hör auf, mit der Gabel zu spielen, Lynnie.« Hannah machte ihnen klar, dass sie Lynnie nicht dauernd unterbrechen sollten, wenn sie etwas sagte, und erklärte, dass sie Zeit brauchte, um die Worte über die Lippen zu bringen. Die Brüder wechselten einen bedeutsamen Blick. Lynnie durfte nur etwas essen, wenn sie ihr erlaubten, sich ein Stück Matzo oder einen Löffel Charoses zu nehmen. Und als sie etwas von einer anderen Speise zu sich nahm, war ihr, als hätte sie eine Biene in die Nase gestochen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die anderen fingen an zu streiten. »Das war eine dämliche Idee«, »Ihr habt dem Rabbi nie verziehen, dass er sich ihretwegen von euch abgewendet hat, und plötzlich sind wir fromm?« und »Man kann die verlorene Zeit nicht wiedergutmachen. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich wette, sie weiß nicht einmal, was Gott ist.«
»Doch, das weiß ich«, sagte Lynnie in einem Ton, den Caitlin sanft nennen würde und der so leise war, dass niemand sie hörte. Aber sie wusste wirklich, was Gott war, weil sie ihn an den Filmabenden gesehen hatte. Manchmal war er eine Feuersäule, die den Menschen Angst macht, manchmal war er George
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