Die Geschichte eines schoenen Mädchens
in einem Raum schliefen und jeder Bewohner viel Platz und eine eigene Kommode für die wenigen persönlichen Kleider neben dem Bett hatte. Die Schubladen waren nicht abgeschlossen, jeder hatte eine eigene Zahnbürste, und das Essen war nicht mehr so schlecht wie früher. Neben den Arbeitsstunden gab es Unterricht. In Lynnies Kunstkurs hatte sie Malen und das Herstellen von Radierungen und Mosaiken gelernt.
Wann immer Lynnie über diese Veränderungen nachdachte, überkam sie dasselbe Glücksgefühl wie dann, wenn sie kanariengelbe, orchideenrosa oder limonengrüne Farbe auf ein Blatt Papier tupfte. Sie hoffte nur, dass sich ein Aspekt ihres Lebens nie ändern würde – dass Doreen im selben Bereich schlief wie sie. Die Freundin, die redete, bis sie beide vom Schlaf übermannt wurden, an ihrer Seite zu haben, half Lynnie, die Leere der Nächte zu ertragen. Zu wissen, dass Doreen bei Sonnenaufgang wach war, sich auf einen Ellbogen stützte und die Zeitschriften durchblätterte, die ihr nun zugestanden wurden, motivierte Lynnie, die Augen an jedem neuen Tag aufzuschlagen – trotz der Schemen, die sie noch immer vor sich sah, wenn sie an Buddy oder das Baby dachte.
Acht Jahre waren vergangen, seit John-Michael Malone den Anstoß für Verbesserungen in der Schule gegeben hatte, und in dieser Zeit war Lynnie etwas Erstaunliches und doch Beunruhigendes über Veränderungen klar geworden: Als die Kunstlehrerin zum ersten Mal Pastellfarben mit in den Unterricht brachte, oder Doreen die Erlaubnis erhielt, ein Gesellschaftsmagazin zu abonnieren, war Lynnie überglücklich. Doch immer, wenn die Betten verschoben wurden und sie befürchten musste, dass Doreen in ein anderes Zimmer verlegt wurde, versank sie in derselben Erstarrung wie damals nach dem Verlust von Buddy und dem Kind. Zum Glück beschwichtigte sie Doreen jedes Mal und sagte: »Wenn du dir einbildest, ich würde von dir weggehen, dann hast du dich getäuscht.« Die schlimmste Art von Veränderung war ihnen bisher erspart geblieben.
»Hey«, sagte Doreen und rüttelte Lynnies Schulter. »Stehst du jetzt endlich auf ?«
Lynnie murmelte: »Gib mir noch eine Minute.« Die Worte klangen schleppender und undeutlicher, als es ihrdie Sprachtherapeutin Caitlin vorgesagt hatte, aber es waren doch verständliche Worte. Wieder sprechen zu lernen war ein langer Prozess aus vielen kleinen Schritten, von denen jeder einzelne endlose, frustrierende Nachmittage in Anspruch genommen hatte. Aber alle, denen Lynnie am Herzen lag, hatten sich an das gewöhnt, was Doreen »Lynnie-Sprache« getauft hatte. Keiner von ihnen warf ihr erstaunte Blicke zu oder wurde ungehalten wegen ihrer bedächtigen Aussprache. Ihre Geduld ermutigte Lynnie, weiter zu üben. Die Reaktion der anderen gehörte auch zu den Lektionen, die sie über Veränderungen gelernt hatte. Wenn sich für einen Einzelnen etwas änderte, dann hatten alle daran teil – manchmal auf eine wünschenswerte, manchmal auf eine weniger wünschenswerte Art.
Lynnie schlug die Augen auf und sah Doreen an, die fix und fertig angezogen neben ihrem Bett stand.
»Dann gehst du also?«, fragte Doreen mit flehendem Unterton.
Plötzlich fiel Lynnie wieder ein, was für ein Tag war. Sie hob die Hand und verschränkte ihre Finger mit denen von Doreen. »Ja. Ich gehe.«
Doreen schüttelte Lynnies Hand ab. »Nun, ich nicht.«
»Sei nicht so.«
»Ich bin weder so noch anders«, gab Doreen zurück und ließ sich schwer auf ihr Bett fallen. »Ich gehe einfach nicht.« Sie nahm ihr Kissen und warf es an die Trennwand. Dann zog sie die Beine an, umschlang sie mit den Armen und verkündete, dass sie nicht zum Frühstück gehen würde, auch wenn es ihr letztes gemeinsames Frühstück hier war.
Aus A-3 in die Frühsommersonne zu treten und zu sehen, wie zwei Angestellte ein Banner zwischen zwei Stöckenhochhielten, war bei weitem nicht so erhebend, wie es Lynnie erwartet hatte. Ihr Herz machte auch keinen Satz, als sie einen Blick auf die Zirkuswagen erhaschte, die auf den Parkplatz rollten, auf dem der uniformierte Albert nach wie vor Aufsicht führte. In den Käfigen auf Rädern sah sie Kamele, Pferde und einen Elefanten – alle mit funkelnden Sätteln. Seit dem letzten Zirkusbesuch vor Jahren hatte sie so etwas nicht mehr zu Gesicht bekommen. »Es wird ein großer Tag«, hatte Mr. Pennington, der neue Direktor, letzte Woche vor der Filmvorführung gesagt. »Wir holen die Tiere zu diesem Fest hierher.« Auch John-Michael Malone und seine
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