Die Geschichte vom neidischen Dorle
zugeben, daß du dich ganz gemein benimmst!“
Da, wo er den Zeigefinger hingedrückt hatte, blieb ein dunkler Fleck auf der Nasenspitze. Ein andermal hätte Dorle darüber gelacht, doch jetzt war ihr nicht danach zumute. Zorn packte sie. Zorn auf alle, die hier im strahlenden Sonnenschein herumhockten und sich stillschweigend alles anhörten. Die hatten sich verabredet. Sie schrie: „Was geht es euch an? Gar nichts geht es euch an! Ich brauch’ euch nicht zum Spielen!“
„Ich denke, du wolltest mitspielen?“ fragte Heino verschmitzt. „Will ich gar nicht, du Affe! Packt euch euren blöden Kran ein!“ Ehe es Heino verhindern konnte, stieß Dorle nach dem halbfertigen Kranführerhäuschen, so daß es Traude in den Schoß flog. Das Mädchen schrie auf. Die anderen Kinder brachten vor Verwunderung und Schrecken kein Wort hervor.
Im nächsten Augenblick sprang Dorle auf den Rand des Sandkastens. Noch einmal kreischte sie: „Ich brauch’ euch alle nicht!“ Dann rannte sie wie gehetzt auf dem Weg zur Straße davon.
Aufgeregt redeten die Kinder durcheinander. Traude wollte Dorle nachlaufen. Heino hielt sie zurück. „Laß sie“, sagte er finster. „Die wollen wir nicht haben.“
„Du bist schuld daran!“ schimpfte Traude und ballte wütend die Hände.
„Das ist nicht wahr! Er hat recht!“ rief Monika in das Durcheinander der Stimmen und wärmte zum fünften Male die Geschichte mit der Puppe auf.
Walter Liesegangs Meinung
Auf dem Heimweg wurde Dorle sehr traurig. Ihr Zorn verflog wie die Wolken nach einem Gewitter. Sie mußte immerzu an die Worte Heinos denken: Sie wollten nicht mehr mit ihr spielen. War sie denn so ein abscheuliches Mädchen?
Die Mutter saß im Wohnzimmer an der Nähmaschine. Die Maschine schnurrte. Mutter änderte sich ein Kleid. Wie flink die Nadel in der Maschine auf und ab ging! „Na, du bist ja schon zurück?“ Frau Klöhner sah erstaunt von der Arbeit auf.
„Ja“, antwortete Dorle einsilbig und setzte sich in einen Sessel. Am liebsten hätte sie geweint. Ob sie Mutti darum bat, ihr einen Metallbaukasten zu kaufen? Sie zögerte lange. Was auf dem Spielplatz vorgefallen war, ließ ihr keine Ruhe. Und das machte ihr diesmal die Bitte schwer.
Nein, sie wollte lieber nicht fragen. Mutti sagte sonst wieder: Du kannst doch nicht alles besitzen, was die anderen bekommen. Du hast auch viele Sachen, die deine Freundinnen und Freunde nicht haben. Und du mußt auch einsehen, daß Vati erst alles erarbeiten muß. Es fällt nichts vom Himmel. . . Nein, es fiel wirklich nichts vom Himmel!
Wie immer erkundigte sich Mutti danach, was sie auf dem Spielplatz getrieben hätte. Stockend und schluchzend erzählte Dorle irgend etwas. Sollte sie vielleicht sagen, daß sie nie, nie mehr zum Spielplatz gehen wollte? Nein, das konnte sie der Mutter nicht sagen. Dann hätte sie auch erzählen müssen, daß die anderen Kinder nichts mehr von ihr wissen wollten, weil sie . . .
Trotzig zog sie die Stirn in Falten. Ihre Mutti ahnte, daß etwas vorgefallen war. Doch sie nähte auf der summenden Maschine weiter, als hätte sie nichts bemerkt.
Dorle ging zum Sofa und spielte schweigend mit ihrer Puppe. Aber bald war es langweilig, allein zu spielen. Sie wußte nicht mehr, was sie mit der Puppe anfangen sollte. Die anderen Kinder bauten wohl noch immer an dem Turmdrehkran. Was sollte denn nun werden, wenn niemand mehr mit ihr spielen wollte? Traude kam nicht mehr zu ihr. Mit Monika war sie verfeindet, mit Brita, mit Rudi, mit Angelika — ach, das war ja fürchterlich! Wer blieb denn noch übrig? War überhaupt niemand da, zu dem sie gehen konnte?
Doch! Walter! Sie sprang auf und lief ins Nachbarhaus. Dort wohnte ihr Klassenkamerad.
Walter Liesegang war zu Hause. Er lag auf der Couch und las in einem Märchenbuch. Höflich erhob er sich und begrüßte Dorle, als hätte er sie an diesem Tage noch nicht gesehen. Walters Mutter, eine kleine, ernste Frau, sprach sehr freundlich mit Dorle. Sie gab ihr ein Stück Kuchen, das am vergangenen Sonntag übriggeblieben war. Der Kuchen schmeckte Dorle nicht. Mit Walter spielte sie eine Zeitlang Schwarzen Peter. Doch bald konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie erzählte Walter genau, was auf dem Spielplatz geschehen war und wie schlecht sie die anderen Kinder behandelt hatten. „Laß sie doch!“ tröstete Walter. „Die brauchst du gar nicht. Wir können immer bei mir spielen. Die mit ihrem Kran! Ich
gebe doch meinen Metallbaukasten nicht dafür her. Die
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