Die Geschichte von Liebe und Sex
der nordwestafrikanischen Wodaabe
Offiziell gehören die Wodaabe dem Islam an, wie die überwältigende Mehrheit aller Völker im nordwestafrikanischen Niger. Das Land ist benannt nach dem gleichnamigen Fluss, der im Südwesten des Landes durch die Hauptstadt Niamey fließt und im kleineren Teil des Landes bescheidene Landwirtschaft ermöglicht. Ansonsten werden über zwei Drittel des Niger von riesigen Ausläufern der Wüste Sahara beherrscht sowie einem kargen Gebirgsmassiv, dessen Vulkane sich bis zu 2 000 Meter hoch erheben.
Gut erhalten gebliebene Felszeichnungen zeigen, dass vor Tausenden von Jahren die Wüste noch fruchtbares Land gewesen sein muss und von Menschen besiedelt war. Das Vordringen der Sahara aus dem Norden hat dies radikal verändert – die knapp zehn Millionen Bewohner des heutigen Niger gehören zu den ärmsten Menschen der Welt. Sie stellen eine bunte Vielfalt von Völkern dar, die nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft im Jahr 1960 eine Republik mit zentraler Präsidialregierung gründeten. Größte Bevölkerungsgruppe sind die Hausa, die mehr als die Hälfte aller Einwohner stellen. Als weitere Völker spielen die Dscherma, Songhai, Fulani und Tuareg ein wichtige Rolle. Von den Wodaabe, die wie die Tuareg beständig unterwegs sind, gibt es noch etwa 50 000 bis 100 000, genau weiß es jedoch niemand, da es ihnen immer wieder gelingt, sich den Volkszählungen zu entziehen.
Julama, etwa 17 Jahre, und Jirma, Anfang 20, vom Volk der Wodaabe berichten um 1999 *
Das Volk der Wodaabe, untereinander noch einmal in viele unabhängige Clans aufgeteilt, lebt in erster Linie von der Zucht seiner Rinder, Schafe und Ziegen. Die |52| Wohlhabenderen haben auch Esel oder Kamele, die sie als Lasttiere nutzen. Die beständige Suche nach ausreichend Weidegrund für ihre Herden bestimmt das Umherziehen in einem Land, in dem gut neun Monate kein Tropfen Regen fällt. Dagegen weht beinah ständig ein warmer, zuweilen heißer Wüstenwind, der feinen Sand oft zu riesigen Dunstwolken aufwirbelt.
Der Name Wodaabe bedeutet in ihrer Sprache Fulfude so viel wie »die Menschen der Tabus«. Davon, dass sie trotzdem andere Freiheiten, auch im Verhältnis von Frau und Mann, kennen als viele sogenannte freie westliche Gesellschaften, berichten Julama, eine unverheiratete junge Frau, und Jirma, der gerade zum ersten Mal Vater geworden ist und als Übersetzer auftritt:
»Julama hat schon mehr als 17 Regenzeiten erlebt. Danach geben wir das Alter eines Menschen an. Ich habe schon drei Regenzeiten mehr als sie mitgemacht.
Wenn wir von Tabus sprechen, meinen wir zuerst Traditionen. Die Beachtung von Traditionen ist so wichtig, weil sie dich gleichzeitig schützen und frei machen. Innerhalb unserer Traditionen sind wir so frei wie die Vögel. Wie sie bauen wir Nester, unsere einfachen Hütten aus Dornenzweigen, auf die wir unsere Decken legen, um uns vor Wind und Sand zu schützen. So eine Hütte kannst du leicht auf- und abbauen, und wenn du ein Lager verlässt, bleiben keinerlei Spuren. Als Möbel haben wir nur unsere aus Holzstämmen gebauten Betten, die sich ebenfalls leicht zusammenlegen und auf die Esel packen lassen.
Tradition bedeutet zuerst Freundschaft und Achtung vor dem anderen. Unsere Tradition verbietet es, mit einem anderen Menschen zu streiten oder ihn gar anzugreifen. Wenn du mit etwas nicht einverstanden bist, schweigst du. Und wenn es gar nicht auszuhalten ist, gehst du still davon. Als uns vor einiger Zeit Rinder gestohlen wurden, sind wir davongegangen. Die Polizei hilft uns doch nicht. Und wir selbst werden keinen Krieg beginnen. Ich habe gehört, dass andere uns als feige bezeichnet haben. Schau uns mal an! Sind wir schwach? Sind wir nicht groß und kräftig? Es ist unsere freie Entscheidung, nicht mit anderen zu kämpfen. Wir wollen glücklich sein, wir wollen tanzen. Das Leben ist sonst schon hart genug.
Um glücklich zu bleiben, brauchst du Munyal. Mit Munyal meinen wir Geduld, Ausdauer, manchmal einfach auch Glück. Wir sagen auch: Wer den Rauch nicht aushalten kann, wird niemals das Feuer genießen können.
Und wie die Vögel wollen wir frei bleiben. Auch in der Liebe. Höre mal, was Julama zu sagen hat.«
Julama schaut erst unsicher zu Boden. Jirma erklärt, worüber bisher gesprochen |53| wurde, und wartet dann ab. Schließlich hebt Julama den Blick und redet mit einer ruhigen Stimme in ihrer Sprache, die Jirma übersetzt:
»Jeder Mensch hat das Verlangen nach zwei Arten von
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