Die Geschichte von Liebe und Sex
wie für Mehrheiten. Nur wer gegen sie verstößt, verdient keine Anerkennung sondern Kritik, egal ob sie oder er zu den Vielen oder den Wenigen gehört.
Die Frauen und Männer, die sich zunächst als Minderheiten für die sexuelle Revolution engagierten, ebneten schließlich den Weg für Mehrheiten zu neuen Freiheiten. Das führte unter anderem dazu, dass ab Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in mehreren westlichen Ländern Reformen des Sexualstrafrechts durchgeführt wurden, die einerseits Schutz vor sexuellem Missbrauch neu definierten, andererseits aber auch das Recht auf mehr sexuelle Selbstbestimmung verankerten.
In Westdeutschland und Westberlin kam es 1969 erstmals zu einer Reform unter Federführung des damaligen Justizministers und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899 – 1976), die 1973 konsequent fortgeführt wurde. Demnach war Homosexualität unter erwachsenen Männern nicht mehr strafbar, auch an Unverheiratete durfte vermietet werden (Abschaffung des Kuppeleiparagraphen). Außerdem wurde ein neues Scheidungsgesetz eingeführt, das den Frauen mehr Rechte gab, und die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch gelockert.
Erst in einer Atmosphäre, die nicht mehr von Strafverfolgung bedroht war, konnten sich Angehörige von Minderheiten überhaupt öffentlich treffen und beginnen, sich für die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation zu engagieren. Denn in aller Regel waren durch die neuen Gesetze die alten Vorurteile keineswegs verschwunden.
In den USA wehrten sich homosexuelle Männer 1969 zum ersten Mal gegen eine Polizeirazzia in der New Yorker Bar Stonewall, die in der Christopher |176| Street lag (daher begehen Lesben und Schwule bis heute den Christopher Street Day mit Demonstrationen und Umzügen). Insbesondere in Italien erstarkte in den 1970er-Jahren die Anti-Psychiatrie-Bewegung, in der psychisch Kranke sich gegen die Abschiebung in Anstalten wehrten und für ihre Teilhabe am Alltag eintraten, wobei sie von kritischen Psychiatern unterstützt wurden. Behinderte Menschen protestierten gegen ihre Bevormundung als »Sorgenkinder« und forderten ebenfalls Integration statt Aussonderung. Alte Menschen wollten nicht zuerst Betreuung, sondern setzten sich für ein würdiges Leben ebenso wie für ein würdiges Sterben ein.
Allen Minderheiten war gemeinsam, dass sie sich nicht länger bevormunden lassen oder gar verstecken wollten. Sie wollten raus aus der Isolation und sich in Gruppen zusammenschließen. Es war nicht mehr akzeptabel, von anderen auf das eine Minderheitsmerkmal reduziert zu werden, sondern das Ziel war, als ganzer Mensch aufzutreten und wahrgenommen zu werden. Dazu gehört auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, ja in vielen Fällen das Recht auf Sexualität überhaupt.
Oft wurden Begriffe, die bis dahin als Schimpfworte galten, von den Aktivisten der Minderheiten aufgenommen und positiv gewendet: Wir entkräften eure Beleidigungen, indem wir uns selbst so nennen. Als Krüppel, Irre, Schwule, Lesben und Alte entziehen wir euch die Kontrolle über uns!
Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede, weswegen es wichtig ist, die jeweiligen Besonderheiten von Unterdrückung und Befreiung genau zu erkunden: Während viele homosexuelle Menschen ihre Orientierung nach außen verbergen können, gilt dies für Behinderte kaum. Sie sind unentwegt mit den Reaktionen anderer konfrontiert, selbst wenn diese nur wegschauen. Bei alten Menschen ist die soziale Lage oft entscheidend: Wer ausreichend finanzielle Mittel besitzt, hat bessere Chancen, in Würde alt zu werden. Viel können wir lernen von jenen Minderheiten, die nicht müde werden, sich oft über Ländergrenzen hinweg gegen Ausgrenzung oder Verfolgung zu wehren.
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|177| Behinderte, Homosexuelle, alte Menschen
Anders schön: Behinderte entwerfen neue Ideen von Schönheit
Aufwachsen mit einer sichtbaren körperlichen oder geistigen Behinderung bedeutet, auf brutale Weise und ununterbrochen mit Schönheitsidealen konfrontiert zu sein, die nicht mit dir selbst übereinstimmen. Du fühlst Wärme und Zärtlichkeit wie jeder andere Mensch, aber bekommst signalisiert: Du bist nicht schön, nicht begehrenswert, hast kein Recht auf Sexualität, geschweige denn eigene Kinder.
Wer sagt denn, dass ein behinderter Jugendlicher kein toller Liebhaber sein kann? Wer sagt denn, dass eine behinderte Jugendliche für sich und ihren Partner nicht attraktiv sein kann? Und nicht weil der Junge
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