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Die Geschichte von Liebe und Sex

Titel: Die Geschichte von Liebe und Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz van Dijk
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Überholvorgang schlicht nicht gesehen. Es krachte … und ich erwachte erst eine Woche später aus dem Koma. Ich fühlte keine Schmerzen, nur einen Schlauch in meiner Nase und dass ich mich nicht bewegen konnte. Dann erkannte ich meine Eltern, die neben mir am Bett standen. Sie sagten, dass alles gut sei mit meiner Schwester. Als ich endlich den Mund aufbekam, fragte ich: ›Muss ich in ein Pflegeheim?‹
    |182| Es folgten viele, viele Operationen und Therapien und wieder Operationen. Aber nichts konnte die erste Diagnose ändern: Ab dem Hals abwärts gelähmt, Dauerbeatmung nötig, wahrscheinlich lebenslang.
    War ich bis dahin ein ganz normaler Junge? Keine Ahnung. Was ist normal? Ich war ganz gut in der Schule, habe viel Musik gehört, Akkordeon gespielt, gern getanzt. Ich weiß, wie toll es war, einen Ball in die Luft zu schießen oder mit meinem damaligen Freund herumzutoben. Meine Eltern? Ja, es gab vielleicht mehr Probleme als woanders, weil mein Vater Alkoholiker war. Das war oft nicht leicht, vor allem für meine Mutter. Er starb, als ich 19 war. Aber das war ja schon viel später.
    Noch mal zu der Zeit vor dem Unfall: So ab zehn Jahren habe ich begonnen, mich selbst zu befriedigen. Immer allein und immer mit der Angst, erwischt zu werden. Es gab noch keine klaren Bilder oder Fantasien. Eben nur den starken Trieb, die starke Sehnsucht nach etwas noch Unbekanntem.
    Ich habe meine Pubertät gelähmt durchlebt. Wenn andere sich das erste Mal treffen, verlieben und all das, hatte ich nur meine eigene kleine Welt: Das Bett, den Spezial-Rollstuhl mit Beatmungsapparat, meine Mutter, das wechselnde Pflegepersonal rund um die Uhr, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr.
    Ich habe eine besondere Stärke: Ich denke viel nach – über mein Leben natürlich, aber auch sonst über alles. Von Anfang an wollte ich das Beste aus meinem Leben machen, nicht resignieren, nicht verbittern, auch wenn es immer wieder total harte Momente gibt. Und ich will immer ehrlich sein. Und da habe ich irgendwann ganz klar gemerkt: Ich träume nicht von Mädchen, sondern von anderen jungen Männern. Ich bin schwul. Punkt.
    Nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik besuchte ich eine Sonderschule, wechselte nach fünf Jahren auf eine Regelschule und machte dort mein Abitur. Danach begann ich, Sozialarbeit zu studieren. Mit einer besonderen Vorrichtung kann ich heute am Computer arbeiten und damit auch selbstständig telefonieren. Außerdem habe ich eine Selbsthilfegruppe gegründet. Besonders gern bin ich künstlerisch tätig: Ich male mit dem Mund und hatte sogar schon Ausstellungen. Ich interessiere mich für gesunde Ernährung und Meditation und bin inzwischen auch als Gesundheitsberater tätig.
    Aber weißt du, was das Schwierigste in meinem Leben bleibt? Es ist nicht die Lähmung oder der Rollstuhl oder die Sorge, ob immer genug Strom für mein |183| Beatmungsgerät da ist. Da habe ich viel gelernt, so viel. Ich werde mich jedoch niemals damit abfinden können, keinen Partner zu haben, keinen Freund, der liebevoll und zärtlich mit mir ist, einen jungen Mann, schwul wie ich, mit dem ich auch Sex haben kann. Auch wenn ich mich nicht bewegen kann, so sehnt sich meine Haut überall nach Streicheln, nach Zärtlichkeit, ja auch nach Sex. Ich kann so viel fühlen, so intensiv, so stark. Und ich kann Liebe geben.
    Tag und Nacht sind wechselnde Pflegekräfte um mich, obwohl ich meist in meiner eigenen Wohnung versorgt werden kann. Das ist nicht immer einfach. Durch meine offene Art habe ich jeweils allen im Pflegeteam mitgeteilt, dass ich schwul bin. Aber das macht es nicht immer leichter. Ich merkte, wie manche denken: Warum sagt er das überhaupt? Er hat doch nichts davon. Oder noch schlimmer: Einmal ließ sich ein junger Pfleger aus fadenscheinigen Gründen versetzen, aber ich wusste, dass er es tat, weil ich ihm von meiner sexuellen Orientierung erzählt hatte und wir uns körperlich nahe gekommen waren.
    Mit einem Pfleger habe ich heute ein besonderes Vertrauensverhältnis, worüber ich sehr froh bin: Ich fragte ihn einmal, ob er Nacktfotos von mir machen könne. Ich hatte doch noch nie meinen ganzen Körper gesehen. Den Körper eines erwachsenen, wenn auch scheinbar leblosen jungen Mannes. Ich war darüber so glücklich, denn mir gefiel am Ende, was ich sah. Ich fand mich schön, kein Topmodell, logisch, aber ein junger Mann, den ich gern betrachtete. Seit einiger Zeit versuche ich, übers Internet Kontakte zu anderen

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