Die Geschichte von Liebe und Sex
84) die Kommune 1, in der radikal mit allem »bürgerlichen Mief« gebrochen werden sollte: Zweierbeziehungen und Privatsphäre waren verpönt |170| (sogar Toilettentüren wurden entfernt), jeder sollte mit jedem Sex haben dürfen. Die Wochenzeitung Der Spiegel kommentierte entsetzt, worum es dort angeblich gehe: »Alle auf einer Matratze schlafen, nicht arbeiten, die Spießer ärgern, Weltrevolution machen, Spaß haben, ein neuer, besserer Mensch werden und niemals im Leben mit Stolz eine Krawatte tragen.«
Zu den prominenten Mitgliedern der Kommune gehörten in den nur 35 Monaten ihres Bestehens (bis zum November 1969) unter anderem Rainer Langhans (* 1940) und das später hinzugekommene Münchner Fotomodell Uschi Obermaier (* 1946), die sich barbusig für mehrere Zeitungen fotografieren ließ. Was hier stattfand, war vor allem ein Spiel mit der Provokation – eine Befreiung unter Gruppenzwang, die, schon gar angesichts des Medienrummels, nicht standhalten konnte. Was jedoch erreicht wurde, war die Idee des Möglichen: In der Folge wurden Wohngemeinschaften (sogenannte WGs), besonders unter studierenden jungen Leuten, zur normalen und in vieler Hinsicht praktischen Lebensform, wo eine größere Wohnung von mehreren geteilt wird, die ähnliche Interessen haben, aber natürlich auch ein Recht auf Privatheit. In vielen sozialen Zusammenhängen, zum Beispiel bei Behinderten oder Jugendlichen, die früher in Heimen wohnten, gehören Wohngemeinschaften heute zu anerkannten Formen des Zusammenlebens.
Die positiven Folgen für die bürgerlichen Mehrheiten ließen nicht lange auf sich warten: Der Journalist und zeitweilige Chefredakteur der Illustrierten Revue , Oswalt Kolle (* 1928), begann als einer der Ersten mit »Aufklärungsserien«, die mit vordem nicht möglichen Nacktfotos versehen wurden. Von 1968 bis 1972 produzierte er Filme mit Titeln wie Deine Frau, das unbekannte Wesen oder Dein Mann, das unbekannte Wesen (ja, auch: Dein Kind, das unbekannte Wesen ), die trotz aller scheinheiligen öffentlichen Proteste mehr als 50 Millionen Zuschauer in die Kinos lockten. Die folgende Fernsehserie mit dem Titel Liebesschule erreichte Rekordeinschaltquoten.
Gleichzeitig erschien eine Fülle von Aufklärungsbüchern für Jugendliche wie Erwachsene. So oft auch die schnelle Kommerzialisierung der sexuellen Revolution beklagt wurde (die Wandlung der Befreiung in eine Verkaufsschlacht) – sie hätte nicht stattfinden können, wenn nicht viele Menschen, nicht nur rebellierende Studenten, ein Bedürfnis nach mehr Offenheit und Ehrlichkeit gehabt hätten.
|171| 1970 erscheint das Buch Sexfront des Sozialwissenschaftlers Günter Amendt (* 1939), das sich ungekannt direkt an Jugendliche wendet *
»Ungefähr 5 Mark kostet die Pille … Wenn man bedenkt, wie viel Scheiße man einkauft, um einen Ersatz zu haben fürs Vögeln, wie viel man an sich hängt, um Sexwerbung für sich zu betreiben, dann ist die Rechnung ziemlich einfach. Man hängt die 5 Mark für die Pille dran.
Mädchen handeln sich dabei den Vorteil ein, ihre Unsicherheit und Angst vor einer möglichen Schwangerschaft zu verlieren. Sie sind nicht auf das Könnertum des Mannes angewiesen. Ein besonders übler Trick von Männern verliert an Schlagkraft. Manche Männer bewahren das Geheimnis der Verhängnisverhütung wie die Formel eines Zaubertranks. Dadurch hoffen sie, Mädchen in Abhängigkeit zu sich und ihrer Geheimwissenschaft zu halten. Nimmt sie die Pille, dann kann sie mit der gleichen Sicherheit einen Typ aussuchen wie umgekehrt.
Es wird noch eine Weile dauern, bis die Antibabypille so selbstverständlich sein wird, dass alle ohne Hindernisse sie anwenden und damit andere Verhütungsmittel überflüssig werden. Bis dahin dürfte der Präservativ das gebräuchlichste und zuverlässigste Verhütungsmittel bleiben. Je nach Landschaft hat der Präservativ einen wechselnden Namen: Pariser, Fromms, Gummi, Präser usw. Alle Begriffe meinen den gleichen Gegenstand: einen zusammengerollten dünnen Gummi, der über den steifen Schwanz gestülpt wird, um den austretenden Samen aufzufangen. Wer ihn nur halb überstülpt, läuft Gefahr, bei der Fickbewegung den Präser zu verlieren …«
Zwei Jahre zuvor – 1968 – hatte Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Humanae Vitae ausdrücklich den Gebrauch der Antibabypille wie aller anderen Verhütungsmittel den Katholiken in aller Welt verboten, was ihm den Spottnamen »Pillen-Paul« einbrachte. Doch die Verhütung war nicht
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