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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Anzahl Männer, die sich ungeachtet der erhöhten Ansteckungsgefahr unter riesige Menschenmassen mischten, um den Prediger
     zu hören, bekannten sich sehr schnell zum Bladderstirismus als Glaubenslehre.
    Zwei Ereignisse jedoch waren angetan, den Bladderstirismus zu erschüttern und sogar zu vernichten.
    Mrs. Bladderstir leitete gegen ihren Mann einen Scheidungsprozeß ein. Sie warf ihm vor, bei seinen Predigten unter einem |44| Namen und Rang, die nur ihr zustanden, eine falsche Mrs. Bladderstir vorzuführen, die Mr. Bladderstir irgendwo aufgelesen
     hatte. Außerdem beschuldigte sie ihren Mann, zu dieser Person sündige Beziehungen zu unterhalten. Mrs. Bladderstir veröffentlichte
     in den Zeitungen ihr eigenes Foto, um wenigstens die unrechtmäßige Aneignung der Identität zu beweisen. Ich habe das Foto
     nicht gesehen, weil ich, wie schon gesagt, in Blueville in Quarantäne war, doch Anita versicherte mir, der Heroismus von Bladderstirs
     Enthaltsamkeit hätte in den Augen seiner Zuhörer großen Schaden erlitten, wenn er seine wirkliche Ehefrau zur Schau gestellt
     hätte.
    Bladderstir protestierte gegen diese »Verleumdungen« heftig, doch es blieb ihm keine Muße, lange zu protestieren. Es trat
     ein Ereignis ein, das niemand vorausgesehen hatte, nicht einmal Bladderstir selbst, der doch Gott so nahe war: Bladderstir
     erlag der Enzephalitis 16.
    Wie man die Fakten auch bewerten mochte, mit diesem Tod hätte eigentlich dem Bladderstirismus die Stunde schlagen müssen.
     Entweder hatte Bladderstir, entsprechend den Beschuldigungen seiner Frau, außereheliche Beziehungen zu der Blonden unterhalten,
     die er für seine Frau ausgab, und war in diesem Falle weiter nichts als ein Scharlatan; oder er hatte tatsächlich die Enthaltsamkeit
     geübt, die er den anderen nahelegte, und in diesem Falle hatte die Enthaltsamkeit nicht die prophylaktische Wirkung, die er
     ihr zuschrieb.
    Doch Logik und Wahrheit haben nichts mit der Gunst des Volkes zu tun. Nicht ohne Enttäuschung hatte man in den Vereinigten
     Staaten oft die Erfahrung machen können: je verlogener, verschlagener und durchtriebener ein Politiker war, je weniger er
     die während einer früheren Wahlkampagne abgegebenen Versprechen hielt, um so größer waren seine Aussichten, haushoch über
     seinen ehrlichsten Konkurrenten zu siegen.
    So geschah es auch mit dem neuen Propheten. Der tote Bladderstir verhalf dem Bladderstirismus zu neuem Leben.
    Aber die Nachfolge des Meisters verlief nicht ohne Reibereien. Seine Schüler machten sich sowohl sein geistiges Erbe wie auch
     die riesigen Einkünfte streitig, die ihm aus seinen Predigten zugeflossen waren. Schließlich zerfiel der Bladderstirismus
     in zwei deutlich voneinander getrennte Flügel: die
Enthaltsamen
und die
Ablationisten.
    |45| Als Anhänger von Bladderstirs mutmaßlicher Praxis priesen erstere die Enthaltsamkeit gleichzeitig als prophylaktische Maßnahme
     auf dieser Erde und als Askese, für die sie im Jenseits vom Herrgott belohnt würden. Die viel radikaleren Ablationisten, die
     anfangs nur eine kleine Minderheit darstellten, ließen sich die Hoden entfernen und empfahlen die Ablation auch ihren Anhängern.
    Vom religiösen Standpunkt aus konnte sich die These letzterer schwerlich auf die Tradition berufen. Im allgemeinen lehnen
     die Kirchen die Kastration ab. Sie ziehen es vor, das Werkzeug zu bewahren und seine Benutzung einzuschränken oder ihren Priestern
     gar völlig zu verbieten, wie es die katholische Kirche tut. Die jungen männlichen Sänger der römischen Kurie sahen sich einst
     nur deshalb ihrer Männlichkeit beraubt, um das Hohelied der Schöpfung singen zu können – was für die Betroffenen nicht einer
     peinlichen Ironie entbehrte.
    Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus hatte die Kastration aber wenigstens den Effekt, der Spermatogenese ein für allemal
     ein Ende zu setzen und den Kastraten die Immunität gegenüber der Enzephalitis 16 zu verleihen, die die Knaben im vorpubertären
     Alter zeitlich bemessen und die Greise im fortgeschrittenen Alter endgültig besaßen. Gleichwohl lehnten die Ärzte die Kastration
     wegen ihrer traumatisierenden, erniedrigenden und nicht rückgängig zu machenden Wirkung strikt ab.
    Nichts zählt in der Leistungsgesellschaft so wie der Erfolg. Sosehr die Ablationisten am Anfang in der Minderzahl waren, sie
     gingen aus den inneren Kämpfen des Bladderstirismus schon aus dem Grund gestärkt hervor, weil sie nicht starben. Vergeblich
    

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