Die geschützten Männer
Außer Lia Burage lachen alle in der Runde. Die Atmosphäre entspannt sich: das Denkmal steigt
vom Sockel, der Vater wird massakriert … Selbstverständlich in bildlichem Sinne.
Aber nichts erfreut die Seele mehr als ein Bild.
Nur Lia Burage bleibt frostig. Ihre blauen Augen lassen nicht so schnell von mir ab. Sie sagt, ohne mit der Wimper zu zucken:
»Gestatten Sie mir den Hinweis, Doktor, daß Sie außerdem eine schreiende Ungerechtigkeit begangen haben.«
Sofort werden die Gesichter wieder ernst, und ich begreife drei Dinge: erstens, daß Lia Burage auf die Position anspielt,
in der ich Dr. Grabel belassen habe. Zweitens, daß Lia Burage ein überaus ehrliches und mutiges Mädchen ist. Drittens, daß
sie wegen dieser Eigenschaften für die Frauen aus dem Labor das »Leittier« darstellt. Wenn ich Lia Burage für mich gewinne,
wird sie mir mit der gleichen Ehrlichkeit und dem gleichen Mut zur Seite stehen.
Moralische Integrität ist etwas Schönes. Sie ist selten. Und wohltuend.
»Sie wollen sagen, daß ich Dr. Grabel gegenüber nicht gerecht bin?«
|128| »Ich glaube, Sie wollen seine Verdienste nicht anerkennen.« Schweigen.
»Sie irren sich, ich weiß seine Verdienste sehr wohl zu schätzen. Dr. Grabel ist ein sehr intelligenter Mensch und ein ausgezeichneter
Wissenschaftler. Nach meinem Weggang kann er ohne weiteres meinen Platz einnehmen.«
Staunen. Schweigen. Fragende Blicke.
»In diesem Falle …« Lia Burage bricht mitten im Satz ab. Sie braucht den Satz nicht zu vollenden.
»Versetzen Sie sich an meine Stelle, Mrs. Burage«, sage ich einlenkend. »Ich bin nicht Christus. Wie kann ich einen Mitarbeiter,
der mich denunziert, befördern, selbst wenn er es verdiente?«
»Dr. Grabel hat den Bericht doch gar nicht geschrieben!« schreit Lia Burage. Ihre Schultern beben, sie atmet heftig, sie hat
sich die Haare nach hinten zurückgestrichen. Welch ein Anblick! Ich sehe sie an, und die Erinnerung an dieses Bild wird mich
lange begleiten. Aber im Augenblick sage ich kalt:
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich es war!«
Ich bin sprachlos. Ich schweige. Und schlagartig wird mir meine absurde Verblendung bewußt. Wie konnte ich glauben, daß ein
einfacher A wie Dr. Grabel sich hätte erlauben dürfen, einen für Hilda Helsingforth bestimmten Bericht an Mr. Barrow zu schreiben!
Nur eine ihrer kastenmäßigen Überlegenheit sichere Frau, die sich über den Kopf eines Kastraten hinweg an eine Frau wandte,
konnte diese Kühnheit besitzen! Nur sie allein durfte der übergeordneten Instanz von den Fehlleistungen eines Vorgesetzten
Bericht erstatten, der zwar sein Fach beherrscht, aber nichts weiter als ein PM ist.
Soll ich mich darüber entrüsten? Ich schweige. Und stelle mir einige bescheidene Fragen. Hängt der offensichtliche Einfluß
Lia Burages auf ihre Kolleginnen, den ich eben noch durch ihren »Charismus« und ihre moralische Vorzüge erklärt habe, nicht
auch mit offiziösen Funktionen zusammen, die sie ausübt? Ist Lia Burage in meinem Labor vielleicht Auge und Ohr von Hilda
Helsingforth? Oder zumindest die zuverlässigste Sachverwalterin der Wachsamkeit und Orthodoxie?
Ich sehe sie an und sage unbefangen: »Gestatten Sie mir, Ihnen eine Frage zu stellen? Waren Sie über den Gegenbericht, den
ich an Mr. Barrow schickte, informiert?«
|129| »Aber sicher«, sagte Lia Burage, als verstünde sich das von selbst.
»Sie allein oder Sie alle?«
»Wir alle.«
»Und die A.s ebenfalls?«
Diese naive Frage löst ringsum Heiterkeit aus.
»Wo denken Sie hin!« sagt Burage.
Gut. Ich nehme es zur Kenntnis. Ich bekomme allmählich Einblick in die geheimen Machenschaften der neuen Ära. Die A.s stehen
in der Hierarchie den Frauen nicht so nahe, wie ich dachte.
»Sie waren besser dran als ich, Mrs. Burage«, sage ich kurz. »Ich kannte den Bericht nicht, den Sie an Mr. Barrow geschickt
hatten.«
»Das ist völlig natürlich«, sagt sie ganz ruhig.
Ich bin nahe daran, aus der Rolle zu fallen, doch denke ich an die Abhöranlage und reiße mich zusammen.
»So natürlich ist es auch wieder nicht«, sage ich trotzdem mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. »Wenn ich nicht weiß,
was Sie mir vorwerfen, wie kann ich da mein Verhalten ändern?«
»Sie hätten uns nur zu fragen brauchen«, sagt Lia Burage.
»Dann frage ich Sie jetzt«, sage ich mutig.
Da hatte ich mir zu Beginn dieses Gesprächs vorgestellt, ich würde ihnen eine unangenehme Viertelstunde bereiten!
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