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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Farbiger in einem Interview. »Ih nen ist bekannt, daß Sie ohne das grüne Abzeichen der A.s als Einwohner einer großen Stadt Gefahr laufen, entführt, vergewaltigt
     und ermordet zu werden?« fragte die Interviewerin. »Besser so sterben als anders«, antwortete der Mann mit obszönem Lächeln.
    Hier handelt es sich offensichtlich um ein sehr primitives männliches Individuum. Die Interviewerinnen kamen aber zu dem Schluß,
     daß die weißen Greise mit höherer Bildung unterschwellig die gleichen Beweggründe hatten: in allen Fällen »handelte es sich
     um Sexualstolz, um heimliche Aggressionen und Herrschaftsansprüche gegenüber unserem Geschlecht.«
    Die Greise stellen in der Tat eine größere Gefahr als die »Hirsche« dar, meint Deborah Grimm zum Schluß, denn letztere führen
     auf dem Lande in entlegenen Winkeln ein unsicheres Dasein und kommen nur mit einer Handvoll reicher Privilegierter in Berührung.
     Es stellt sich also die Frage, ob man »im Namen einer überholten Auffassung von individueller Freiheit« weiterhin zuläßt,
     daß die heranwachsende Stadtbevölkerung den Intakten im Greisenalter ausgeliefert bleibt, oder ob man sich im Interesse der
     Allgemeinheit entschließen wird, ihnen gegenüber Zwang anzuwenden und sie durch ein Dekret zu verpflichten, in die Reihen
     der Ablationisten einzutreten.
     
    Als ich meine Lektüre beendet hatte, merkte ich, daß mir noch viel Zeit blieb, bis Dave aufstehen würde. Ich las den Artikel
     noch einmal von Anfang bis Ende. Aber auch das genügte mir nicht. Ich las einige Abschnitte ein drittes Mal, vor allem das |122| Verhör B.s und die Erläuterung des »gerechten« Urteils, das ihm fünf Jahre Gefängnis eintrug. Dann suchte ich den Abschnitt
     heraus, in dem Deborah Grimm die Unterweisungen beschreibt, mit denen die jungen Mädchen tagtäglich in den schulischen Einrichtungen
     so großzügig bedacht werden. Schließlich war ich wieder beim letzten Absatz, der gegen die »überholte Auffassung von individueller
     Freiheit« zu Felde zieht.
    Joan Pierce hatte im Grunde genommen recht. Ich war sehr sorglos gewesen, als ich mich von meinen kleinen persönlichen Sorgen
     ausfüllen ließ. Ich hatte in Blueville in einem Zustand egoistischer Kurzsichtigkeit gelebt und kaum über den Stacheldrahtzaun
     hinausgeblickt. Joan Pierce hatte mir prophezeit, mir würden durch Deborah Grimms Artikel Lichter aufgehen. Lichter! Es wäre
     besser, von Blitzen zu sprechen! Und was ich undeutlich erkannte, erschreckte mich fast mehr als das, was ich geahnt hatte.
    Wenn ich mir vorstelle, daß mich die Ablehnung meiner Kündigung eine Woche zuvor fast beruhigt hatte! Wie leichtfertig hatte
     ich mich in Hoffnung gewiegt! Wie schnell hatte ich mich darin gefügt, keine Zeitungen und Informationen mehr zu bekommen
     und wie ein Kind in Unwissenheit gehalten zu werden, keinen Einfluß auf mein Leben nehmen zu können, mich in meiner Kurzsichtigkeit
     auf Dave zurückzuziehen, auf Anita, auf meinen kleinen Freundeskreis in Blueville, auf meine Träume und meine Frustrationen.
    Jetzt war ich wach geworden, und das Erwachen war niederschmetternd. Im Vergleich zu der Finsternis draußen war Blueville
     fast eine Oase. Das Atmen fiel hier schwer, gewiß, aber man lebte. Man wurde rund um die Uhr bespitzelt, aber man lief nicht
     Gefahr, beim Verlassen des Hauses überfallen zu werden. Man wurde auch nicht zur Strafe dafür, daß man entführt worden war,
     ins Gefängnis geworfen. Der Begriff »geschützter Mann« klang weniger ironisch, wenn man wußte, was außerhalb der
Schutzzone
vor sich ging. Für die Intakten war nicht innerhalb der Stacheldrahtumzäunung die Hölle, wie ich geglaubt und wie selbst Stien
     angenommen hatte, sondern draußen.

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    |123| SECHSTES KAPITEL
    Mein Gespräch mit Joan Pierce hatte Mittwoch abend stattgefunden. Am nächsten Tag entschloß ich mich zu dem Versuch, mit meinen
     Mitarbeiterinnen aus dem Labor ins reine zu kommen. Kein Zweifel, eine allgemeine Aussprache war fällig, wenn ich das Geschwür
     aufstechen wollte, doch sie mit dem gesamten Personal zu führen hätte mich vor zu viele Probleme gestellt. Also teilte ich
     die Schwierigkeiten auf: zuerst die Frauen, dann Dr. Grabel, schließlich die übrigen A.s – drei Belastungsproben, von denen
     die erste die schwerste sein würde. Aber wenn ich die Frauen für mich gewinnen könnte, würde Dr. Grabel seine einflußreichsten
     Anhänger verlieren, rechnete ich mir aus.
    Ich

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