Die Gesellschaft des Abendsterns
nach Fabelheim zurückgekehrt.
In wenigen Tagen war Mittsommernacht. Opa hatte Seth gegenüber betont, dass sie ihr Leben in seine Hände legten, indem sie ihm gestatteten, an diesem gefährlichen Abend im Reservat zu bleiben. Ihr Bruder hatte allen versichert,
dass er seine Lektion gelernt habe und sich von allen Fenstern fernhalten werde, es sei denn, er bekäme eine anders lautende Anweisung. Kendra war beinahe überrascht, als sie merkte, dass sie, genau wie ihr Großvater, Seth sogar glaubte.
Ein spezieller Gedanke kam Kendra immer wieder in den Sinn, während sie wach in der Dunkelheit lag. Vanessas letzte Worte erschienen ihr zunehmend seltsam: »Ich bleibe deine Brieffreundin.«
Kendra wurde das Gefühl nicht los, dass Vanessa diese Worte nicht nur einfach so gesagt hatte. Es klang so, als hätte Vanessa vielleicht auf eine geheime Botschaft angespielt.
Schließlich hielt Kendra es einfach nicht mehr aus. Sie musste es einfach wissen. Kendra strampelte ihre Decke weg, öffnete die Schublade ihres Nachttischs und nahm die Kerze aus Umitenwachs heraus, die Vanessa ihr gegeben hatte. Dann schlich sie barfuß durch den Raum und die Treppe hinunter in den Flur.
Kendra zog vorsichtig die Tür zu Opas und Omas Zimmer auf. Wie alle anderen in dem dunklen Haus schliefen sie tief und fest. An einem Haken neben dem Bett hingen die Kerkerschlüssel. Opa hatte für den Fall, dass er ein weiteres Mal in den Kerker gesperrt werden sollte, Ersatzschlüssel anfertigen lassen und sie an strategisch günstigen Punkten im Haus versteckt.
Kendra zögerte. Was sie da tat, war beunruhigend Seth-mäßig. Sollte sie ihren Großeltern nicht einfach von ihrem Verdacht erzählen und sie bitten, sie zu begleiten? Aber sie befürchtete, dass sie nicht wollen würden, dass sie eine Abschiedsbotschaft von Vanessa las. Und sie machte sich Sorgen, dass sie damit sogar Recht haben könnten, weil die Botschaft vielleicht etwas Gemeines enthielt. Und zu guter
Letzt hatte sie Angst, dass sie sich vielleicht irrte und es gar keine Botschaft gab und sie dann ziemlich töricht dastehen würde.
Leise nahm Kendra die Schlüssel vom Haken und verließ den Raum. Sie bekam langsam Übung darin, herumzuschleichen. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe zur Eingangshalle hinunter.
Wartete im Kerker wirklich eine geheime Botschaft auf sie? In vielerlei Hinsicht wäre Kendra sogar erleichtert gewesen, wenn sie sich täuschte. Was sollte Vanessa schon zu sagen haben? Eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Wohl eher etwas Gehässiges. Kendra wappnete sich gegen diese Möglichkeit.
Wie immer die Botschaft lautete, es war an ihr, sie zu lesen. Sie wollte nicht, dass andere ihre Post lasen, zumindest nicht bevor sie selbst sie gelesen hatte.
Kendra nahm eine Schachtel Streichhölzer aus dem Küchenschrank und ging die Treppe in den Keller hinunter. Zu Vanessas Zelle zu gelangen war leicht. Sie hatten sie in die vierte Zelle auf der rechten Seite gesperrt, nicht weit entfernt vom Eingang des Kerkers.
Aber konnte Vanessa unter den wachsamen Augen von Mr. Lich überhaupt etwas geschrieben haben? Vielleicht. Er hatte nur darauf geachtet, dass sie sich nicht in Trance versetzte, um die Kontrolle über eines ihrer Opfer zu übernehmen. Vielleicht hatte er sie nicht jede Sekunde fest im Blick gehabt.
Kendra sperrte die eiserne Tür zum Kerker auf und ging die Treppe hinunter. Die Goblins würden keine Probleme machen. Sie hatten als Belohnung für ihre Kooperation sechs Dutzend Eier, drei lebende Gänse und eine Ziege erhalten. Solange sie nur direkt zu Vanessas Zelle ging und dann sofort wieder verschwand, würde ein heimlicher Besuch im
Kerker keinen Schaden anrichten. Vielleicht war die Idee am Ende doch nicht so Seth-mäßig, wie sie gedacht hatte.
Sie schloss Vanessas Zelle auf und ging hinein. Drinnen war es dunkel, aber dank ihrer Feensicht konnte Kendra trotzdem genug erkennen, um sich zurechtzufinden. Die Zelle war wie die anderen, die sie gesehen hatte — steinerne Wände und Boden, ein primitives Bett, ein Loch in der Ecke als Toilette. Sie nahm ein Streichholz aus der Schachtel und entzündete die Umitenkerze, plötzlich überzeugt davon, dass es keine Botschaft geben würde.
Im Schein der Flamme flackerten Worte auf. Die Schrift war sehr klein, aber lesbar und bedeckte einen erstaunlich großen Teil des Bodens; die Botschaft war viel länger, als Kendra erwartet hatte. Die Ausrichtung der Worte verriet, dass Vanessa sie mit dem Rücken zur Tür
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