Die Gesichtslosen
klug von ihm gewesen, Onko zu raten, Baby Ts Seele in ihrem geschundenen Körper zu besänftigen und die Götter um Verzeihung zu bitten? Hätte er nicht Onko raten müssen, den Fehler wiedergutzumachen, auch im materiellen Sinne? Hätte er nicht Onko raten müssen, Baby T um Verzeihung zu bitten, schon um seiner selbst willen, um mit den Wurzeln seiner ungesunden Begierde fertig zu werden? Aber wie sich herausstellte, suchte Onko beim Medizinmann eine unpraktische Lösung für ein praktisches Problem. Der geschickte Medizinmann kannte und verstand dieses Spiel. Nachdem er sich aufmerksam angehört hatte, daß Onko Naa Yomos Fluch für den schlechten Gang seiner Geschäfte verantwortlich machte, gab er seinem Klienten das, was er sich unvernünftigerweise, aber wahrhaftig wünschte. Der Medizinmann verschwendete von da an keine Minute mehr und verschrieb alles Notwendige, um den Mix aus Onkos gutem Blut mit dem vergifteten und verfluchten Blut von Baby T zu verdünnen. Er händigte Onko eine Liste aus. Darauf standen vier Flaschen Schnaps, der gute Heineken aus Holland mußte es schon sein, denn zwei der Gottheiten, die angehört werden mußten, so erklärte er, hatten im Laufe der Zeit eine einzigartige Vorliebe für diese Marke entwickelt. Ferner wurden verlangt: sechs Meter weißer, ungebleichter Baumwollstoff, eine Summe an Bargeld, ein Stück von Baby Ts Schamhaaren und ein reinweißes, selbstgezüchtetes Huhn, das von einem schwarzen, selbstgezüchteten Hahn gezeugt worden war.
Gab es das überhaupt, ein Mischlingshuhn?
Medizinmänner lassen sich immer viel einfallen. Wenn sie genau wissen, daß sie ein bestimmtes Problem nicht lösen können, fordern sie Dinge, die unmöglich zu beschaffen sind. Von niemandem, nicht einmal von ihnen selbst. Sie weisen immer gleich darauf hin, daß die Götter sehr beleidigt reagieren würden, sollte man versuchen, den Gegenwert in bar anzubieten. Man hat es in der verlangten Form zu besorgen oder gar nicht. Punkt. Ende. Aus.
Doch Medizinmänner sind auch nur Menschen und begehen deshalb Fehler. Dieser Medizinmann hatte Onkos Entschlossenheit unterschätzt. Da war wohl das Problem mit dem Huhn, das ein Mischlingshuhn sein sollte, aber auch wiederum nach den Standards der Götter keins sein durfte. Heutzutage, in den Zeiten von Hühnerfarmen, wo die weißen Hühner meistens zu saftig-zarten Grillhähnchen herangezüchtet und bereits von dem Moment an, wo sie noch als Eigelb in «Mamas» Bauch sind, mit Geflügelfutter gemästet werden – wo sollte er da ein reinweißes, selbstgezüchtetes Huhn herbekommen? War Onko etwa der Hühnerspion, der große Geflügel-James-Bond? Wie sollte er herauskriegen, welcher Hahn es mit welcher Henne getrieben hatte, um welches Huhn zu zeugen?
«Und – hat er eins gefunden?» fragte Sylv Po den Medizinmann.
Der lächelte überheblich. «Ja, mit meiner Hilfe.»
Sylv Po wurde neugierig. «Wie denn?»
«Wissen Sie», der Medizinmann kniff ein Auge zu. «In dieser Welt, hier und heute, glauben die Leute nur noch an das materiell Sichtbare und nicht mehr an das Spirituelle. Dabei durchdringt es jeden Aspekt unseres Lebens, selbst unsere Beziehungen zu der Welt der Hühner.»
«Zu der Welt der Hühner?»
«Ja. Sehen Sie. Wenn Sie einem Huhn begegnen, was geht Ihnen dabei durch den Kopf? Denken Sie nicht lange darüber nach. Antworten Sie direkt, aus dem Bauch heraus. Spontan.
Schauen Sie mich an. Ich bin ein Huhn. Sie schauen mich an. Mich, der ich ein Huhn bin. Was ging Ihnen da gerade durch den Kopf?»
Sylv Po grinste. «Hm. Gebraten oder gegrillt?»
Der Medizinmann starrte ihn an. Sylv Po hörte auf zu grinsen. Der Medizinmann begann zu kichern. «Sehen Sie? Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. Sie haben an Essen gedacht, wo ich eine Opfergabe gesehen habe. Ich habe die Götter gesehen. Spiritualität. Wenn Sie ein Huhn wären, und ich würde Sie anschauen, dann würde ich mich fragen: Eignet sich dieses Huhn für ein Opfer an die Götter? Deshalb habe ich auch meinen Neffen ermuntert, spezielle Hühner für Opferzwecke zu züchten. Er züchtet alle Sorten. Schwarze Hühner, die von weißen Hähnen gezeugt wurden. Hühner aus Eiern, die exakt um Mitternacht gelegt wurden. Und natürlich reinweiße Hühner, die von schwarzen Hähnen gezeugt worden sind.»
«Und Ihr Neffe betreibt diese Hühnerfa… sorry, diese besondere Farm?»
«Genau. Weil ich über das rein Materielle hinausgesehen und an das Spirituelle gedacht
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