Die gestohlene Zeit
an. Sie war wirklich clever! Wie ihre Mutter, schoss mir gleich darauf durch den Kopf, und ich musste an eine Begebenheit aus Caros und meiner Internatszeit denken. Damals waren wir aus unerfindlichen Gründen plötzlich in zwei getrennte Zimmer gesteckt worden. Alles Flehen und Argumentieren hatte nichts genützt, die Internatsbetreuer waren der Meinung, es täte uns gut, einmal mit anderen Mädchen zusammenzuwohnen, und hatten uns einfach jeweils eine neue Zimmergenossin zugewiesen. Während ich mich am Abend in den Schlaf geweint hatte, voller Überzeugung, machtlos gegen diese Entscheidung zu sein, hatte Caro schon in der ersten Nacht begonnen, entsetzlich laut zu schnarchen. Natürlich war ihre Bettnachbarin aufgewacht und hatte sich beschwert. Vergeblich, zehn Minuten später hatte Caro erneut losgelegt und gegrunzt, als läge statt ihr ein ausgewachsener Keiler im Bett. Nach zwei Nächten hatte ihre Mitbewohnerin die Betreuer unter Tränen angefleht, tauschen zu dürfen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren überzeugend gewesen, und weil
ich
mich nie über Caros Schnarchen beschwert hatte, waren wir innerhalb kürzester Zeit in einem gemeinsamen Zimmer wiedervereint. Ihren Einfallsreichtum hatte Caro offenbar an Lilly vererbt, dachte ich und drückte ihr dankbar die Hand.
»Wieso bist du eigentlich in diesem Katzenkäfig gelandet?«, wollte sie wissen, und auch Spindler und Jonathan sahen gespannt in den Rückspiegel.
»Ich kann von Glück reden, dass Udo mich nicht gekillt hat«, erwiderte ich und registrierte die erschrockenen Mienen meiner Mitfahrer. »Er muss wohl rausgefunden haben, dass Karla mich ins Haus geschmuggelt hat«, fuhr ich fort. »Claudia hat mich in meinem Versteck aufgescheucht, während Udo schon mit einer Decke gewartet hatte, die er über mich geworfen hat. Wenn die Kleine nicht so geheult und gebettelt hätte, dann wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Genau das hat mir Udo übrigens angedroht, wenn er mich das nächste Mal erwischt.«
Spindler bog ohne Vorwarnung in eine Abzweigung ein und brachte das Auto auf einem kleinen Feldweg zum Stehen. »Das muss ich erst einmal verdauen«, erklärte er.
Jonathan griff nach meiner Hand und streichelte sie, während er mich besorgt ansah.
»Dieser Mistkerl«, durchbrach Lilly schließlich die Stille.
»Nun ja, es passt zu ihm«, schaltete sich Spindler nachdenklich ein. »Er hat schließlich vor fast dreißig Jahren auch Emmas Tod in Kauf genommen, um an den Ring zu kommen.«
»Er hat Verdacht geschöpft!«, mutmaßte ich. »Er muss irgendwie gemerkt haben, dass ich als Katze in seinem Zimmer war und sein Geheimversteck entdeckt habe! Ich habe euch doch von dem heruntergefallenen Bild erzählt und dem Tresor, der sich dahinter befand. Vielleicht kam Udo das schon merkwürdig vor. Und dann hat er mich, beziehungsweise die rotgescheckte Katze, vor diesem Club ein zweites Mal gesehen. Dort bin ich ihm und Frank ja direkt vor die Füße gelaufen.«
»Und vorhin sind Sie beziehungsweise die Katze zum dritten Mal bei ihm aufgetaucht«, sagte Spindler langsam. »Da hat er nicht mehr an Zufall geglaubt. Vor allem, da er wahrscheinlich sowieso in ständiger Angst lebt, den Ring und damit seine Macht zu verlieren. Er spürt wohl, dass etwas im Gange ist.«
Wir schwiegen alle eine Weile, und ich dachte an Udos gierigen Blick, mit dem er damals schon den Schmuck gemustert hatte. Vermutlich ahnte er, dass er alles in seinem Leben nur durch dessen Magie erreicht hatte.
»Die Zeit drängt«, stellte Jonathan schließlich fest. »Wir müssen sofort versuchen, in das Haus zu kommen und den Ring zu holen. Denn Udo wird nun vielleicht versuchen, ein anderes Versteck für ihn zu finden, selbst wenn er davon ausgeht, die Katze losgeworden zu sein. Doch ich hörte, wie auch der Mann, mit dem er neulich nachts unterwegs war, ihm drohte.«
»Udo ist mit Claudia und den Kindern bei einem Ausflug«, erinnerte ich mich. »Wir können also sofort zu seiner Villa fahren und mit Hilfe des magischen Kiesels alle Türen öffnen.«
»Au ja«, meldete sich Lilly begierig.
»Verzeiht, wenn ich unterbreche, aber die Mittagsstunde naht, und ich fürchte …«, begann Jonathan und krümmte sich bereits kurz zusammen. Mein Blick flog zu der Uhr am Armaturenbrett. Der kleine Zeiger stand bereits auf der Zwölf, und soeben rückte der große Zeiger ebenfalls einen Millimeter darauf zu. Jonathan gelang es gerade noch, die Tür zu öffnen, ehe es ein kurzes, zischendes
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