Die gestohlene Zeit
dem Rück- und Jonathan auf dem Vordersitz erst mal gegen die Türen geworfen wurden.
»Verzeihung, ich bin selbst etwas in Sorge«, murmelte der alte Herr entschuldigend.
»Nichts wie raus«, rief Lilly, während sie schon den Gurt löste und gleich darauf aus dem Auto sprang. Spindler folgte ihr eilig, vorher wandte er sich noch zu Jonathan, der ebenfalls Anstalten machte, auszusteigen. »Sie bleiben besser hier, mein Junge! Wir wissen nicht, wie lange es da drin dauert. Nicht dass Sie sich auch noch verwandeln und wir gleich das nächste Problem mit einem eingesperrten Raben haben!« Zuerst wollte Jonathan widersprechen, dann aber ließ er sich in den Sitz sinken und nickte. Spindler drückte ihm kurz den Arm, dann lief er so rasch wie möglich hinter Lilly her. Jonathan warf einen Blick auf die Uhr. Nur noch fünf Minuten bis zur vollen Stunde. »Bitte eilt euch«, murmelte er und krampfte die Hände um den Türgriff.
Ich stand mit dem Rücken zur Wand und verfluchte zum wiederholten Male den Zwergenherrscher und seinen dämlichen Fluch. Als Mensch wäre mir so eine Situation garantiert erspart geblieben. Der graue Kater war inzwischen so weit vorgerückt, dass sich unsere Nasen beinahe berührten und ich seinen Atem riechen konnte. Thunfisch-Katzenfutter, tippte ich und verspürte den Anflug eines Würgereizes. Er legte die Ohren, oder das, was vom linken noch übrig war, flach an seinen dicken Schädel, und seine gelben Augen verengten sich zu Schlitzen.
Langsam hob er die rechte Vorderpfote und fuhr die Krallen aus. Ein spitzer Schmerz durchfuhr mich, und ich schrie auf. Zuerst dachte ich, der Kater hätte mich bereits erwischt, doch bei der zweiten Schmerzwelle vernahm ich dumpf, als hätte ich Wasser in den Ohren, von fern die hallenden Schläge einer Uhr. Sekunden später kauerte ich auf dem Boden und spürte kalten Beton unter meinen bloßen Füßen. Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Und zwar auf zwei menschlichen, stellte ich erleichtert fest. Ich hatte zwar nichts an, überragte aber nun meine tierischen Angreifer deutlich. Ein halbes Dutzend grüner Augenpaare starrte mich entsetzt an. Dass sich ein wehrloses Kätzchen, das eben noch zum Prügelopfer auserkoren gewesen war, plötzlich in einen Menschen verwandelte, ging natürlich über ihren Verstand. Der Graugetigerte stieß ein erschrockenes Maunzen aus.
»Verzieh dich, Amigo, oder ich überlege mir, ob ich mir demnächst eine Weste aus Katzenfell nähe«, knurrte ich das verdatterte Tier an, und eingeschüchtert wich er zwei Schritte zurück.
Zwei von den anderen Katzen kreischten jedoch laut auf und flüchteten in die am weitesten entfernte Ecke des Käfigs. Das war das Signal für die kollektive Panik. Maunzend, fauchend und jammernd rasten die verstörten Tiere in ihrer Zelle herum, und ich stand wie der personifizierte Katzenschreck mittendrin – ohne Kleider. Hastig rannte ich zur Käfigtür und schob in aller Eile zwei Finger unter den eisernen Riegel, mit dem die Gittertür von außen gesichert war. Zum Glück hing kein Schloss daran, so dass ich den Riegel hochklappen konnte. Die Gittertür schwang auf. In aller Eile quetschte ich mich hindurch und blickte mich panisch um. Ich brauchte etwas zum Anziehen – und zwar schnell, denn zu allem Überfluss zu dem Katzenaufstand hinter mir näherten sich nun Stimmen vom Eingang her.
»Opa, du musst mir helfen, eine besonders schöne Katze auszusuchen, am liebsten eine rotgetigerte«, hörte ich eine Mädchenstimme. Sie kam mir vage bekannt vor, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Gleich würde die Sprecherin um die Ecke biegen, im Schlepptau ihren Großvater! Was sie wohl sagten, wenn sie ein nacktes Mädchen samt lauter durchgeknallten Vierbeinern vorfanden? Unwillkürlich fiel mir der Titel eines Theaterstücks ein – »Ein Käfig voller Narren«.
Zu meinem Glück bemerkte ich just in diesem Moment mehrere Wandhaken, an denen Schaufel, Rechen und eine Art knielanger Hausmeisterkittel in unattraktivem Dunkelgrau hingen. Darunter stand ein Paar schlammgrüner Gummistiefel. Ohne zu zögern streifte ich mir das Kleidungsstück über den Kopf und fuhr hastig mit den Füßen in die Schuhe. Besser als nichts, dachte ich, auch wenn mir die Stiefel eine Nummer zu groß waren und der Kittel durchdringend nach Katzenstreu und einem Hauch Ammoniak roch. Gleich darauf stapfte eine Frau in einem ebenfalls nicht sehr kleidsamen Latzhose-und-kariertes-Männerhemd-Ensemble um
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