Die gestohlene Zeit
die Ecke.
Als sie mich sah, blieb sie abrupt stehen. »Was machen
Sie
denn hier? Wer sind Sie überhaupt?«, rief sie, und ihr Blick flog zu dem Käfig, in dem die Katzen sich inzwischen in der Ecke zu einem verstörten Fellknäuel zusammengerottet hatten, aus dem nur die angstvoll geweitete Pupillen funkelten.
Hinter ihrem Rücken tauchten die Gesichter von Lilly und – zu meiner Überraschung – Spindler auf. Lilly presste sich die Hand vor den Mund und blickte mich mit schreckgeweiteten Augen an.
»Ich … hm, bin die neue … Helferin«, improvisierte ich. »Ehrenamtlich«, setzte ich noch nach.
»Davon weiß ich ja gar nichts!«, empörte sich die Frau. »Außerdem können Sie doch nicht einfach hier zu unseren Schützlingen reinspazieren! Die Tiere kennen Sie ja gar nicht. Sehen Sie mal, wie verängstigt die sind!«, warf sie mir vor.
Ich drehte den Kopf, und mein Blick traf den des getigerten Katers. Fauchend wühlte der Graue sich noch tiefer zwischen zwei Artgenossen.
»Da haben Sie’s«, raunzte die Latzhosenträgerin. »Sie gehen jetzt erst mal ins Büro an der Rückseite des Gebäudes und melden sich bei meinem Kollegen an. Danach sehen wir weiter!«
Bedeutend freundlicher wandte sie sich anschließend an Spindler. »Leider haben wir keine rote Tigerkatze da«, hörte ich sie sagen, während ich mich hastig verdrückte und hinter ihrem Rücken schnell noch Lilly zuwinkte. Dann machte ich, dass ich rauskam.
Jonathan stand beim Auto und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Eilig lief ich auf ihn zu, und beim Geräusch meiner Schritte auf dem Kies hob er den Kopf. Nach einer Schrecksekunde, die wohl eher meiner seltsamen Bekleidung galt, hellte sich sein Gesicht auf. »Emma«, rief er, kam auf mich zu und umarmte mich stürmisch. »Du ahnst nicht, welche Angst ich um dich ausgestanden habe!«
Ich schmiegte mich an ihn, und das war Antwort genug. Erneut schien in seinen Armen die Zeit stillzustehen, und ich wünschte mir, die Uhren würden tatsächlich aufhören, die Minuten bis zur Mittagsstunde zu zählen, bis zu den Glockenschlägen, die Jonathan wieder in einen Raben verwandeln würden. Da spürte ich seine Hand an meiner Wange und sah ihn an. Sein trauriger Gesichtsausdruck verriet mir, dass er denselben Gedanken hatte. Der Zauber des Augenblicks war verflogen.
»Emma, Jonathan!«, hörte ich Lilly rufen und sah sie auf uns zurennen. Ich nahm sie in den Arm und drückte danach Spindler die Hand. »Danke« war alles, was ich herausbrachte.
»Schnell ins Auto mit euch, ehe Emmas Schwindel mit dem Helferposten auffliegt«, drängte mein ehemaliger Tutor, und hastig quetschten wir uns alle in Spindlers altersschwachen Ford und tuckerten durch das Tor in Richtung Landstraße.
Lilly, die neben mir auf dem Rücksitz saß, boxte mich freundschaftlich in die Seite.
»Als ich dich da vor dem Käfig stehen sah, dachte ich echt, jetzt ist alles aus«, sagte sie atemlos. »Zum Glück hast du diese geniale Ausrede erfunden, von wegen Ehrenamt und so!« Dann rümpfte sie die Nase »So, wie du riechst, nimmt man dir die freiwillige Tierpflegerin auch ab!«
»Zum Glück hing dieser scheußlich stinkende Kittel dort herum, nicht zu vergessen diese überaus reizenden Gummistiefel«, erwiderte ich ironisch. Aber in Wirklichkeit spürte ich jetzt doch meine Knie weich werden. Erst nach dem ausgestandenen Schreck wurde mir klar, wie viel Glück ich gehabt hatte.
»Mann, der weibliche Dragoner in Latzhosen war ganz schön sauer auf dich!«, kicherte Lilly.
»Dort drin arbeiten
Dragoner
?«, warf Jonathan erstaunt ein.
Lilly prustete los, und Jonathan verdrehte die Augen. »Schon gut, ich verstehe«, sagte er. »Ich muss wohl noch eine Menge über das dritte Jahrtausend lernen!«
»Wie seid ihr denn überhaupt aus der Nummer rausgekommen, ohne eine Katze mitnehmen zu müssen?«, wollte ich wissen.
Spindler schmunzelte und warf Lilly einen Blick durch den Rückspiegel zu.
»Die junge Dame hat eine große schauspielerische Begabung. Plötzlich fing sie an, zu niesen und sich die Augen zu reiben …«
»Ja, und die Latzhosen-Tante war sofort total alarmiert und hat gefragt, ob ich vielleicht eine Katzenhaarallergie habe«, kicherte Lilly. »Ich habe behauptet, ich wüsste es nicht, aber nachdem ich auch noch angefangen habe, zu husten wie ein Schlossgespenst, hat sie uns empfohlen, erst mal einen Test beim Arzt zu machen und später wiederzukommen.«
Ich blickte sie bewundernd von der Seite
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