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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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folgte ihr Jonathan. Doch zu spät: Schon trugen die beiden Insassen des Kastenwagens eine viereckige Plastikbox mit einem Gitter davor aus dem Haus und verfrachteten sie eilig in den Wagen. Noch ehe Lilly bei ihnen angekommen war, schlugen die Türen zu, und der Motor wurde angelassen. Genauso schnell, wie das Auto aufgetaucht war, verschwand es wieder um die Kurve.
    Lillys Blick flog zum Haus. Am Fenster war ein kleines Mädchen zu sehen, das seine tränennasse Wange gegen die Scheibe drückte, ehe es von einer blonden Frau mit hartem Gesicht weggezerrt wurde.
    Lilly und Jonathan blickten sich an, beide waren blass geworden. »Sie haben Emma mitgenommen, nicht wahr?«, fragte Jonathan, und Lilly blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. »Ich glaube schon.«
    »Wir müssen sie sofort befreien! Nicht mehr lange, und sie wird zum Menschen«, rief Jonathan, und aus seiner Stimme klang nun echte Angst.
    »Das Tierheim ist am Stadtrand. Zu Fuß brauchen wir mindestens zwei Stunden«, grübelte Lilly. Dann aber hellte sich ihr Gesicht auf, und sie fischte ihr Handy aus der Jeanstasche.
    »Was hast du vor?«, wollte Jonathan wissen.
    »Ich google«, erklärte Lilly, während sie bereits eifrig tippte. »Jetzt kann uns nämlich nur noch einer helfen …!«
     
    Unvermittelt waren die Hände, die mich umklammert hatten, verschwunden. Nur noch die dunkle Decke umhüllte mich. Als es mir endlich gelungen war, mich aus dem erstickenden Stoffknäuel zu befreien, erkannte ich, dass ich vom Regen in die Traufe gekommen war. Zwar hatte ich Udos mörderischer Absicht entrinnen können, doch nun war ich in einer Art Box gelandet und in den Kofferraum eines Autos verfrachtet worden.
    Auf die Antwort meiner Frage, wohin man mich wohl brachte, musste ich nicht lange warten. Nach einer kurzen Fahrt und dem Transport durch einen schummrigen Gang, bei dem ich aus meinem Käfig nur den Betonfußboden erkennen konnte, öffnete sich überraschend das Gitter der Katzenbox, und ich wurde durch einen energischen Schubs gezwungen herauszuspringen.
    Die plötzliche Helle nach der Dunkelheit im Auto ließ mich einen Moment lang geblendet die Augen zukneifen. Nachdem sich meine Pupillen an das Licht gewöhnt hatten, sah ich, wo ich gelandet war: Ich befand mich in einer Art Zwinger oder großem Käfig, der wahrscheinlich zu einem Tierheim gehörte. Ein vielstimmiges Fauchen und Maunzen aus Katzenkehlen empfing mich, und ehe ich michs versah, war ich von einem halben Dutzend Artgenossen umzingelt. Vor allem ein graugetigerter Kater, dem ein Eck vom linken Ohr fehlte, tat sich hervor und kam zwei drohende Schritte auf mich zu, wobei er unmelodisch maunzte und knurrte. Zwar war ich im Herzen ein Mensch, aber so viel verstand ich: Ich war der Neuzugang, und nun würde als Erstes die Hackordnung geklärt werden.
     
    »Geht das nicht ein bisschen schneller?«, drängelte Lilly und schielte vorwurfsvoll auf die Tachoanzeige des alten Fords. Der Motor röhrte, die Tachonadel zitterte zwischen achtzig und neunzig Stundenkilometern, und Jonathan war bereits ziemlich blass um die Nase.
    »Dieser Wagen ist nicht mehr der Jüngste, genau wie ich«, antwortete Herr Spindler, drückte aber Lilly zuliebe das Gaspedal noch etwas mehr durch. Der Motor drehte mit einem Geräusch hoch, als würde ein riesiger Föhn eingeschaltet, und die Geschwindigkeitsanzeige quälte sich bis knapp vor die Hundert-Stundenkilometer-Marke. Auch der ehemalige Lehrer wirkte angespannt. Sofort nachdem Lilly seine Nummer herausgefunden und bei ihm angerufen hatte, war er zu Udos Haus gefahren. An der Straßenecke hatte Spindler Lilly und Jonathan aufgesammelt, und sie waren zum Tierheim aufgebrochen. Während der Fahrt hatte der junge Mann ihm die Wirkung von Laurins Fluch berichtet, der nun auch Emma getroffen hatte und sie Punkt Mitternacht zur Katze werden ließ. Hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig, um das Mädchen zu befreien, ehe sie sich in einen Menschen zurückverwandeln und die Sache in eine Katastrophe münden würde, dachte Spindler.
    »Mist, es ist zehn vor elf. Das wird knapp«, stöhnte Lilly und biss sich vor Anspannung beinahe die Fingerknöchel wund. Auch Jonathan rutschte unruhig auf dem Beifahrersitz herum und schielte nervös auf die Uhr im Inneren des Wagens, deren Sekundenzeiger hämisch weiterwanderte, viel zu schnell, wie es schien.
    Endlich tauchte das Schild »Städtisches Tierheim« auf, und Spindler bog so schwungvoll in die Zufahrt ein, dass Lilly auf

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