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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Wollmütze vor meinem Gesicht herum.
    »Wenn Emmas Konterfei spätestens nächste Woche bei
Aktenzeichen
XY
ungelöst
erscheinen soll – bitte!«, sagte sie beleidigt.
    Ich griff nach der Mütze. »Nun gib schon her.«
    Ich steckte sie in meinen Hosenbund und stieg aus. Jonathan flatterte ebenfalls aus dem Auto und segelte zu Udos Villa. Dort setzte er sich auf die Dachrinne und wartete, bis ich durch das schmiedeeiserne Gartentor gehuscht war. Ich zog mir die Strickmütze über den Kopf, nicht gerade angenehm bei den heißen Temperaturen, die an diesem Sommertag herrschten, aber sicher war sicher. Geduckt lief ich die paar Schritte zur Haustür, während der Rabe auf mich herabäugte. Hastig zog ich Laurins Bergkiesel aus der Hosentasche, und kaum hatte ich die Tür damit berührt, sprang sie mit einem Klicken auf. Ich holte tief Luft, dann betrat ich das Haus. Weil ich als Katze ja bereits zwei Mal hier gewesen war, fand ich mich mühelos zurecht. Trotzdem beschlich mich ein Unbehagen, ähnlich dem mulmigen Gefühl, das man beim Hinuntersteigen in einen dunklen Keller verspürt. Obwohl man nicht an Gespenster glaubt, ist man unsicher, ob nicht doch im Dunkeln etwas lauert.
    Ich blieb sekundenlang stehen und sprach mir selbst Mut zu. Nur mein eigener Atem, abgehackt und stoßweise, war zu hören. Unter der Wollmütze, die mein Gesicht bedeckte, klang er unerträglich laut in meinen Ohren. Da segelte ein schwarzglänzender Schatten heran und ließ sich auf meiner linken Schulter nieder. Mit einem leisen Krächzen ermahnte mich mein gefiederter Begleiter, jetzt nicht vor lauter Angst kopflos zu werden.
    »Ach, Jonathan, ich bin ein Hasenfuß«, flüsterte ich, und er rieb kurz und zart seinen Schnabel an meinem Hals, so dass ich lächeln musste. Mutiger geworden, ging ich den Flur entlang und steuerte schnurstracks auf das Arbeitszimmer zu. Ich drückte die Klinke herunter, doch die Tür war abgesperrt. »Tja, Udo, das wird dir nichts nützen«, dachte ich mit leiser Schadenfreude. Ich hielt den schwarzen Stein an die Tür. Diesmal dauerte es eine Weile, bis die Tür aufsprang. Verwundert musterte ich den magischen Kiesel. Sein Glimmen, das aus dem tiefsten Inneren kam, schien schwächer geworden zu sein. Ich erschrak. War er irgendwie beschädigt worden? Ich hielt ihn mir nahe vors Gesicht, doch sosehr ich ihn auch drehte und wendete, ich konnte nichts entdecken. Seine glatte, onyxfarbene Oberfläche war makellos. Hoffentlich macht er nicht schlapp, ehe ich den Tresor geöffnet hätte!
    Hastig lief ich zu dem hässlichen Selbstporträt Udos, das an seinem angestammten Platz hing, und nahm es ächzend von der Wand. Allein für den Goldrahmen sollte man Udo den Oscar für schlechten Geschmack verleihen.
    Achtlos lehnte ich das Bild an die Wand. Meine Aufmerksamkeit galt dem Mechanismus zu der verborgenen Tapetentür. Weil ich deutlich weniger scharf sah als in Katzengestalt, dauerte es eine Weile, bis ich schließlich inmitten des wilden Musters von pinkfarbenen Rosenknospen den Umriss des kleinen Knopfes ausmachen konnte.
    Ich betätigte ihn, und wie beim ersten Mal schwang ein rechteckiges Stück der Tapete beiseite und gab den Blick auf den schmalen, aber massiven Tresor frei, der nahtlos in die Wand eingepasst war.
    Darin verbarg sich Laurins Ring, dessen war ich mir ganz sicher. Bei der Vorstellung, ihn in wenigen Augenblicken zu finden, endlich das Pfand in der Hand zu halten, das den Fluch von Jonathan und mir nehmen würde, durchströmten mich gleichzeitig Triumph, Freude und Erleichterung. Ich drehte den Kopf und sah mich nach dem Raben um, der hinter mir auf der Lehne des einen Ledersessels hockte und leise krächzte. Vor meinem inneren Auge entstand das Bild von Jonathan, in Menschengestalt. Er lächelte mich an, dann nahm er meine Hand und beugte sich vor, um mich zu küssen. Ein Glücksgefühl, prickelnd wie der Champagner, den ich das erste und einzige Mal getrunken hatte, nachdem Caro und ich unsere Abiturzeugnisse in der Hand gehalten hatten, stieg von meinem Bauch auf.
    Ich sah in die dunklen Augen des Raben und nickte. »Bald wird es so weit sein, Jonathan«, versprach ich ihm und hob meine Hand mit Laurins schwarzem Kiesel. Vor Aufregung zitternd nahm ich ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn gegen das Türblatt des Safes. Nichts passierte.
    Ich erschrak und wiederholte die Prozedur. Doch die Tür blieb zu, selbst als ich mehr und mehr Druck ausübte. Eine lähmende Angst schien mit

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