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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Kursfahrt wiederzufinden.
    Mühsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Wahrscheinlich erinnerte ich eher an einen kaputten Roboter als an eine sportliche Berggängerin. Meine Kopfwunde meldete sich außerdem auch wieder und machte mir mit einem stetigen Brennen und Pochen jeden Schritt zur Qual. Trotzdem stapfte ich weiter. Hier musste der Findling gewesen sein, hinter dem die komische gedrungene Gestalt hervorgehuscht war und Udo gegen das Bein getreten hatte. Oder war es doch der Fels links davon? Irgendwie sahen plötzlich alle Steine gleich aus. Ich drehte mich nach allen Seiten, aber ich konnte mich partout nicht mehr erinnern, woher ich vorhin gekommen war. Ich befand mich zwar recht weit oben, aber mitten im Gebirge. Die schorfigen Felsen und Gipfel sahen alle gleich aus, und ich hatte keine Ahnung, welcher Weg ins Tal führte.
    »Hallo?«, rief ich. »Ist da wer? Hilfe!«
    Meine Stimme wurde von den Felswänden seltsam hohl zurückgeworfen, doch niemand erwiderte mein Rufen. Nur das sanfte Geräusch des Windes, der durch die verkrümmten Latschen fuhr, war zu hören. Ich schrie noch einmal, verzweifelter, lauter – aber erneut war die Antwort nur Stille. In meinem Magen machte sich ein ziehendes Gefühl breit, das nicht von dem Schwindel nach meinem Sturz kam. Eine kriechende Kälte breitete sich in meinem Herzen aus und machte jeden dumpfen Schlag gegen meine Rippen schmerzhaft spürbar. Es war die nachtschwarze Angst, die von mir Besitz ergriff. Ich war allein in einem mir völlig unbekannten Gebiet, und weit und breit keine Hilfe. Unwillkürlich schossen mir die Tränen in die Augen, die ich hektisch wegzublinzeln versuchte. Dabei dachte ich an den Rat, den die Sportlehrerin ihren Schülern vor diesem Wandertag gegeben hatte. »Egal, ob ihr euch verlauft oder plötzlich erschöpft seid, atmet tief durch und versucht, nicht in Panik zu geraten. Wer Angst hat, macht Fehler, und der kleinste Patzer kann im Gebirge lebensgefährlich sein.«
    Zitternd holte ich Atem und versuchte, meinen galoppierenden Puls zu beruhigen. Nach ein paar Sekunden öffnete ich die Augen, und was ich sah, verschlug mir den Atem. Allerdings weniger vor Schreck als vor Überraschung. In einiger Entfernung sah ich einen blutroten Schimmer auf dem Felsen. Erst dachte ich, es wären nur die Abendsonne, die das schroffe Gestein beleuchtete, doch dann wurde mir klar, dass kein Felsen in dieser Farbe erstrahlen konnte. Es musste etwas anderes sein. Wie von einem Magneten angezogen, näherte ich mich dem Phänomen. Das Leuchten wurde intensiver, die Konturen schärfer – und auf einmal erkannte ich, was da im Wettstreit mit dem Abendrot flammte: ein Feld voller Rosen, deren schwere, dunkelrote Köpfe aufgeblüht waren und regelrecht zu glühen schienen.
    »Laurins Rosengarten«, hörte ich mich flüstern. War die Legende also wahr? Die Rosen schienen sich auf ihren schlanken Stielen sanft in einem selbstvergessenen Tanz zu wiegen, ihr Burgunderglanz wirkte hypnotisch auf mich. Weder dachte ich darüber nach, ob ich nicht doch einer Sinnestäuschung aufgesessen war, noch war ich mir einer möglichen Gefahr bewusst. Magisch angezogen ging ich einen weiteren Schritt auf diese Pracht zu. Ich wollte die Rosen betrachten, nur einmal eines ihrer granatfarbenen Blütenblätter berühren. Bestimmt fühlte es sich an wie Samt auf der Haut und schwerer Rotwein auf der Zunge.
    In diesem Augenblick schnitt ein scharfer Schmerz in meinen Knöchel, knapp oberhalb meiner Wanderschuhe, und es gab einen Laut, als risse eine straff gespannte Geigensaite. Erschrocken schrie ich auf und blickte nach unten. Jetzt erst entdeckte ich zahlreiche dünne, goldene Fäden, mit denen der ganze Rosengarten umspannt war. Anscheinend war ich über einen von ihnen gestolpert, und er war zerrissen, denn die schmale, schimmernde Schnur lag nun schlaff wie eine tote Blindschleiche im Gras.
    Ich bückte mich und nahm den Goldfaden zwischen die Finger. Wer ihn wohl um den Garten gespannt hatte – und warum? Ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte, ertönten wütende Schreie, und hastig trappelnde Schritte näherten sich. Ich wirbelte herum, was mir mein lädierter Kopf mit einer heftigen Schmerzattacke vergalt. Ich stöhnte auf. Durch die schwarzsilbernen Punkte, die vor meinen Augen hüpften, sah ich eine Horde dunkler, gedrungener Schemen, die rasch näher kamen. Endlich ließen die qualvollen Stiche hinter meiner Stirn nach, und ich erkannte eine Gruppe

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