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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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keinen Millimeter rühren. Mit einem grausamen Feixen hob der Zwerg den Dolch mit beiden Händen, als sei es eine Opfergabe. Die Strahlen der untergehenden Sonne trafen die silberne Klinge und ließen sie aufblitzen, hellrot wie Blut, das bald auf dem Eisen kleben würde – mein Blut. Da beschloss ich zu schreien, so laut und so lange, bis jemand kam, der mir half. Irgendwer musste mich doch in dieser Einöde hören und mich vor diesen grässlichen Wesen retten, in deren Gesichtern die blanke Mordlust stand …
    Ich öffnete den Mund, da zerriss eine scharfe Stimme die gespannte Stille, die bald vom Tod getränkt sein würde. »Haltet ein!« Ich schloss den Mund und blickte mich um, wer da gesprochen hatte. Auch die Zwerge wandten unwillig ihre breiten, unförmigen Köpfe, auf denen kaum Haare wuchsen. Einer von ihnen, völlig kahl und das Gesicht noch zerfurchter als das der übrigen, deutete auf mich. »Seht ihr nicht? Ihr Haar?«, flüsterte er, und sein ausgestreckter, magerer Zeigefinger zitterte. Unwillkürlich schielte ich auf eine meiner Locken, die mir etwas zerzaust über die Schulter hingen. Meinte er vielleicht das Blut von der Wunde an meinem Hinterkopf? Doch gleich darauf verwarf ich diesen Gedanken. Die Zwerge hatten mich eben noch eigenhändig verstümmeln und töten wollen, da fiel so ein bisschen Blut aus einer Platzwunde für sie ja wohl kaum ins Gewicht.
    Aber was meinte der grässliche Gnom dann? Jetzt näherte er sich und nahm eine meiner Locken zwischen Daumen und Zeigefinger. Angewidert wollte ich ausweichen und den Kopf zurückreißen, da sah ich den Ausdruck auf seinem Gesicht. Beinahe ehrfürchtig blickte er auf mich herab. Die orangegoldenen Strahlen der immer tiefer sinkenden Sonne trafen die Strähne zwischen seinen Fingern und ließen mein Haar leuchten, als stünde es in Flammen. Ein Raunen lief durch die Reihen der Zwerge.
    »Ist sie es?«
    »Ist das möglich?«
    »Was wird der König sagen?«, wisperten und tuschelten sie. Beinahe wäre mir die Frage herausgerutscht, wen zum Kuckuck sie meinten, doch in letzter Sekunde wurde mir klar, dass ihr Erstaunen meine Rettung bedeuten könnte. Ihren andächtigen Mienen nach zu urteilen, hielten mich die fiesen Typen für jemand ganz Bestimmten. Vielleicht eine Fee? Zumindest für eine Person, die sie offenbar nicht töten wollten oder durften.
    Ich beschloss mitzuspielen, denn es ging um mein Leben.
    »Ja, ich bin es«, sagte ich mit lauter Stimme. »Und ich werde eurem König erzählen, dass ihr mir Hand und Fuß abhacken und mich anschließend töten wolltet«, fügte ich hinzu.
    Mit einer gewissen Häme bemerkte ich, dass der Haufen blutrünstiger Gnome zu einem jammernden Häuflein Zwergenelend zusammenschrumpfte. »Wir werden bestraft«, heulte der mit dem Dolch und warf ihn im hohen Bogen weg, als wäre er eine giftige Tarantel. »Der König wird uns hungern lassen«, jaulte das Großmaul, von dem der Vorschlag des Handabhackens gekommen war.
    »Oh, die Strafe wird viel schlimmer sein«, prophezeite ich und versuchte, die altertümliche Sprechweise der Zwerge zu imitieren. Dabei fixierte ich den Haufen schlotternder Kartoffelnasen. »Der König wird mit euch dasselbe machen, wie ihr es mit mir vorhattet!« Ich machte eine wirkungsvolle Pause, ehe ich im Plauderton fortfuhr: »Ich hoffe, ihr könnt einbeinig hüpfen, denn jeder von euch wird einen seiner Füße einbüßen!« Ich fand, das war eine angemessene Rache für das, was sie mir hatten antun wollen. Ein kollektives Aufheulen war die Antwort. Die Zwerge rauften sich die Haare und winselten. Drei Sekunden sonnte ich mich in meiner Genugtuung, dann aber kam mir ein beängstigender Gedanke: Was, wenn sie mich nun erst recht umbrachten? Damit ich ihrem König nichts erzählen könnte? Nach dem Motto: Was der König nicht weiß, macht ihn nicht heiß? Ich musste mir etwas einfallen lassen, und zwar schnell.
    »Aber ich könnte euch helfen«, rief ich laut, um die Zwerge zu übertönen. Schlagartig verstummte das Wehklagen, alle Köpfe wandten sich mir zu. »Euer König braucht nichts von eurem schändlichen Vorhaben zu erfahren«, sagte ich und lächelte schmeichlerisch. »Wir machen einen Deal …«, schlug ich vor und erinnerte mich daran, dieselben Worte vor kurzem zu Udo gesagt zu haben. Als ich die verständnislosen Mienen der Zwerge sah, fuhr ich rasch fort: »Wir tun einfach so, als wäre die ganze Sache nie passiert, in Ordnung?« In einigen zerfurchten Gesichtern leuchtete

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