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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Gestalten, die ungefähr die Größe jenes Wesens hatten, das vor kurzem hinter dem Findling hervorgesprungen und vor uns geflohen war.
    Diesmal jedoch rannten sie nicht ängstlich vor mir davon, sondern stürmten auf mich zu. Sie waren zu sechst. Ihre faltigen Gesichter, in denen dicke Nasen wie verwachsene Kartoffeln über breiten, fast lippenlosen Mündern saßen, waren wütend verzerrt, und ein schrilles Kreischen drang aus ihren Kehlen. Ich überlegte keine Sekunde länger, sondern rannte los. Doch ich war erschöpft und verletzt, und meine Verfolger waren zwar klein, aber schnell. Ehe ich michs versah, hatten sie mich umzingelt. Ein paar Sekunden lang schien die Zeit stillzustehen. Ein halbes Dutzend tückisch funkelnder Augenpaare in von tiefen Furchen durchzogenen Gesichtern starrte mich lauernd an.
    Im ersten Moment glaubte ich tatsächlich an eine Halluzination. Wahrscheinlich war mir die Sage vom Zwergenkönig Laurin zu lange durch den Kopf gegeistert, und die Beule am Kopf bescherte mir jetzt seltsame Visionen. Denn solche Wesen hatte ich bisher nur als kleines Mädchen in den Märchenbüchern gesehen, die in der Internats-Bücherei standen. Darin gab es Zeichnungen von Trollen, Gnomen und Zwergen, aber dass sie mir nun wahrhaftig gegenüberstehen sollten, konnte doch gar nicht sein, oder? Ich kniff meine Lider fest zu und beschloss verzweifelt, wenn ich die Augen öffnete, würden die seltsamen Erscheinungen verschwunden sein.
    Doch vergebens: Die hässlichen Gestalten verschwanden selbst dann nicht, als ich mich einmal kräftig in den Oberarm kniff. Im Gegenteil, sie rückten immer näher, und langsam wurde mir klar, dass sie sehr real waren – und gefährlich.
    Abhauen konnte ich nicht mehr, also musste ich es mit Diplomatie versuchen. »Hört mal, es tut mir leid, wenn ich hier irgendwas kaputt gemacht habe«, fing ich an. Verstanden diese Leute überhaupt meine Sprache? Egal. »Jedenfalls, sorry, okay? Ich habe mich verlaufen und …« Weiter kam ich nicht.
    »Wir hacken ihr den linken Fuß ab«, schrie eins der Wesen plötzlich und sprang auf mich zu. »Und die rechte Hand«, johlte ein anderer und schubste seinen Kumpel grob zur Seite. Die anderen grölten und klatschten beifällig. Mit einem schrillen Lachen, das sein sowieso schon hässliches Gesicht zu einer irren Fratze verzerrte, streckte derjenige, der zuletzt gesprochen hatte, seine Hand nach mir aus. Ich sah dürre, schrumpelig-braune Finger, die in langen, gelblichen Nägeln endeten. Mit einem Aufschrei wich ich zurück. Das war das Signal für die anderen. Grölend rückte die restliche Horde von allen Seiten an mich heran, und so sehr ich auch um mich schlug und trat, es half nichts. Mit einem Ruck rissen sie mich zu Boden. Ein blendender Schmerz durchzuckte meinen Kopf, und ich schrie nochmals auf. Ohne Mitleid schlangen sie ein grobes Seil um meine Hände und Füße. Da lag ich nun zum zweiten Mal an diesem Tag benommen auf der Erde. Die brutalen Jäger waren inzwischen noch näher an mich herangerückt und beäugten mich gierig. Ein strenger Geruch von schimmeligen Zwiebeln, Moder und altem Schweiß ging von ihnen aus, und ich musste unwillkürlich würgen. Hatten die keine Dusche zu Hause? In derselben Sekunde wurde mir klar, dass ich ganz andere Probleme hatte. Dies hier war kein nächtlicher Alptraum, aus dem ich gleich erwachen würde. Die hässlichen Wesen, meine Fesseln und die Bedrohung waren schreckliche Realität. Ich öffnete den Mund, um zu schreien, doch vor lauter Angst brachte ich nur einen kläglichen Laut heraus.
    »Auf das Betreten des Rosengartens steht der Tod«, zischte eine der Gestalten. »Mit vorherigem Abhacken der Hand und des Fußes. So will es der König«, fauchte der zweite.
    »Das war keine Absicht«, rief ich. »Ihr könnt mich doch nicht einfach umbringen!« Dann versagte mir die Stimme vor lauter Angst. Aber ich hätte sowieso genauso gut mit den Felsbrocken vor mir reden können. Einer der Gnome oder Zwerge – mein Gefühl sagte mir, dass es keine menschlichen Wesen waren – hatte bereits einen Dolch mit langer Klinge gezogen und schärfte ihn an einem Stein. Das metallisch-schleifende Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein. Erneut überwältigte mich Panik, diesmal jedoch war es Todesangst. Die Zwerge würden ernst machen, das spürte ich. Mein eigener, rasender Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, und in mir bäumte sich alles dagegen auf, zu sterben. Gleichzeitig konnte ich mich vor Angst

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