Die gestohlene Zeit
Blick auf seine ausgestreckte Handfläche fing das Mädchen an, gellend zu kreischen. Die beiden Gnome konnten sich zuerst keinen Reim darauf machen, bis sie hörten, wie die Kleine im Wegrennen etwas von einem Käfer schrie. Laurins Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Er hat meinen Späher. Er ist ein Dieb, und ich werde ihn bestrafen. Doch zuerst hole ich mir mein Eigentum zurück«, kündigte der König grimmig an und machte sich bereit, hinter dem Busch hervorzuspringen und sich den Jungen zu greifen.
»Verdammt noch mal, kann man euch eigentlich keine zwei Minuten alleine lassen?«, dröhnte da auf einmal ein männlicher Bass, und Laurin erstarrte mitten in der Bewegung. Er konnte denjenigen, der gerade gesprochen hatte, nicht sehen, denn die Hausecke verbarg ihn, aber der Zwergenkönig spürte die Macht, die dieser Mensch ausstrahlte. Eine Kraft, die für diese Gattung ganz und gar untypisch war, gepaart mit dem Instinkt eines wütenden Bären, der alles tötete, was sich ihm in den Weg stellte. Das hatte der Herrscher selbst bei den tapferen Recken, die Similde damals befreit hatten, nicht in dieser Deutlichkeit verspürt, und es beunruhigte, ja ängstigte ihn. Eilig verbarg er sich wieder im dichtgrünen Blättergewirr.
»Linus ist fies zu mir, Papa! Ich habe einen Zwerg gesehen, und er hat mir nicht geglaubt!«, heulte das kleine Mädchen, und Laurin schloss resigniert die Augen. Nun musste er fliehen, denn wenn der mächtige Mensch ihn finden würde, wäre er ihm unterlegen, das sagte ihm sein Instinkt. Zu sehr waren seine Kräfte in der Oberwelt schon erschöpft, und der Menschling erschien ihm zu mächtig.
Er, der König der Zwerge, war jetzt ein geschwächtes Wesen. »Hätte ich nur meinen Ring«, dachte Laurin, und erneut wurde ihm der Verlust des goldenen Schmucks mit dem funkelnden grünen Stein schmerzlich bewusst. Die Stärke, die dieser Schmuck verlieh, hätte ihm das erspart, wozu ihn seine schwindenden Kräfte nun zwangen: kehrtzumachen und zum ersten Mal in seinem langen Leben davonzulaufen wie ein gehetztes Wild.
»… und dann hat er gesagt, er hat ein Bonbon für mich, dabei war es ein ekliger Käfer«, setzte Karla ihre Jammerlitanei fort.
Doch Udo hörte gar nicht mehr zu. Plötzlich war er wieder in den Bergen, an jenem heißen Sommertag 1987 . Fast konnte er den herben Geruch der Latschenkiefern riechen, der damals in der Luft lag. Die Zweige hatten sich auf einmal bewegt, ehe eine gedrungene Gestalt zwischen ihnen hervorhuschte …
»Ein Zwerg«, hatte Frank damals behauptet, und Udo hatte ihn ausgelacht. Doch jetzt war ihm nicht mehr nach Lachen zumute. Erst tauchte Emma wieder auf, direkt aus dem Reich der Toten, so war es Udo jedenfalls vorgekommen, denn im Gegensatz zu ihm und Claudia schien die damalige Studentin keinen Tag gealtert zu sein – und jetzt behauptete seine Tochter auch noch, einen Zwerg gesehen zu haben. Das konnte kein Zufall sein, dachte Udo und rieb sich seine schmerzende Schläfe, wo Emma ihn mit der Kristallkaraffe erwischt hatte. Er hätte dieses rothaarige Miststück erschießen sollen, solange sie noch mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte. Gleich darauf fiel ihm jedoch ein, wieso er es nicht getan hatte: Erstens hatte er gedacht, bei der maskierten Gestalt würde es sich um Frank handeln, und zweitens war der Tatbestand der Notwehr nicht erfüllt, wenn man einen Einbrecher in den Rücken schoss.
Udos Kopf begann wieder zu pochen, trotz der Schmerzmittel, die er mit einem kräftigen Schluck Whiskey heruntergespült hatte. Ihn beschlich das Gefühl, ein dunkler, körperloser Schatten würde ihn verfolgen, der näher und näher kam. Schon streckte er seine langen, schwarzen Finger aus und …
»Karla spinnt, Papa«, keifte Linus da und riss Udo aus seinem dumpfen Brüten.
»Gar nicht!«
»Wohl!«
»Ruhe«, bellte Udo, den beginnenden Zwist unterbrechend.
»Ich muss nachdenken. Aber zuerst zeigt mir Karla, wo sie den angeblichen Zwerg gesehen hat!«
Seine kleine Tochter deutete eingeschüchtert auf das Gebüsch, hinter dem Laurin hervorgekommen war.
»Da hat er gestanden. Und mich nach einer rothaarigen Frau gefragt. Aber ich habe gesagt, dass so jemand bei uns nicht wohnt«, plapperte Karla.
Jetzt wurde es Udo wirklich unheimlich. Mit zwei Sprüngen war er bei dem Dickicht und bog die Zweige des Ginsters zur Seite. Nur ein paar plattgetretene Grasbüschel waren zu sehen. Welches Wesen auch immer dort gestanden haben mochte, jetzt war es
Weitere Kostenlose Bücher