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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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einem Schlag kehrte die Erinnerung an Similde zurück, und das Oberhaupt der Zwerge vermeinte erneut in ihren Augen den Widerwillen bei seinem Anblick zu sehen. In seinem steinernen Reich hatte er nicht verstanden, warum. Doch hier war Laurin schmerzlich der Unterschied zwischen ihm und den Menschen mit ihren ebenmäßigen Gesichtern, ihrem hohen Wuchs und den langen Beinen bewusst geworden. Er hatte ihre Blicke gespürt und ihr Flüstern vernommen – ein höhnisches Echo Simildes, die ihn abgewiesen hatte. Wütend fauchte er den kleinen Menschling an:
    »Wenn du mich noch einmal so nennst, dann schleppe ich dich in meine Höhle, und du musst in der Küche schuften, bis sich die Haut von deinen Händen schält!«
    Das Mädchen starrte ihn sekundenlang an, dann plärrte es: »Mamaaaaa!«, machte kehrt und rannte davon.
    Laurin sah ihr schnaubend nach, dann stapfte er zurück zu Thoralf. »Ich werde meinen Späher nochmals befragen, wo Similde sich aufhält«, kündigte er an und fischte das Insekt aus seiner Tasche. Er wollte das regungslose Tier gerade mit einem gemurmelten Spruch zum Leben erwecken, da erklangen aufgeregte Stimmen.
    »Ein echter Zwerg, du spinnst ja!«
    »Doch, der war ganz hässlich und hat gesagt, er würde mir meine Hände abschälen! Das sage ich Papa!«
    »Da kommen Schwierigkeiten auf uns zu«, murmelte Thoralf, und nicht zum ersten Mal, seit er sich in diese verdammte Oberwelt begeben hatte, verspürte er ein bisher unbekanntes Gefühl: Furcht.
    Laurin zögerte, auch er schien sich unwohl zu fühlen. Währenddessen kamen die Stimmen näher.
    »Und wo soll der gewesen sein, Klugscheißerin?«
    »Da drüben, Klugscheißer!«
    Laurins Entscheidung war getroffen. Er gab seinem Untertan einen Wink, und blitzschnell machten sich die beiden Zwerge im Schutz der Büsche davon.
     
    »Ach ne, und wo ist jetzt dein Zwerg hin, hä?« Linus stemmte die Arme in seine nicht vorhandene Taille und starrte seine Schwester herausfordernd an.
    »Der war aber da«, rechtfertigte Karla sich, allerdings deutlich kleinlauter. »Vielleicht hat er sich versteckt?«
    Linus bedachte sie mit einem verächtlichen Blick, doch die Neugier trieb ihn dazu, hinter den Büschen nachzusehen, die das Grundstück begrenzten. Er spähte hinter den Goldregen und inspizierte den Rhododendron, aber zu seiner Enttäuschung fand er nichts als Gras und …
    »Boah, geil«, flüsterte Linus und bückte sich, um das grünschwarz glänzende Ding näher in Augenschein zu nehmen, das zwischen ein paar geknickten Halmen funkelte.
    »Was hast du denn da?«, fragte Karla neugierig und versuchte, ihm über die Schulter zu spähen.
    Hastig schloss Linus seine Hände um seine Entdeckung. In seine Augen trat ein tückisches Funkeln, und schnell verbarg er seinen Fund in der Hosentasche und damit vor den neugierigen Augen seiner Schwester.
    »Nichts!«
    »Doch, du hast was, ich habe es genau gesehen! Ich sag’s Papa!«
    »Mach doch, mach doch! Dann sag ich ihm aber, dass du eine Angeberkuh bist. Hier ist nämlich gar kein Zwerg!«, höhnte Linus und verpasste seiner kleinen Schwester einen derben Schubs. Heulend lief sie davon.
    Zufrieden sah Linus ihr nach. Endlich war er allein und konnte seinen Schatz genauer in Augenschein nehmen. Er fischte das ovale Glitzerding aus der Hosentasche und hielt es, zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, nah an sein Gesicht.
    »Ist ja nur ein toter Käfer«, maulte er leise, nachdem er den Panzer und die eingezogenen Fühler entdeckt hatte. Er war drauf und dran, seinen Fund gleich wieder wegzuwerfen, bis ihm einfiel, dass er damit Karla erschrecken konnte. Wie alle kleinen Mädchen ekelte sie sich vor allem, was mehr als vier Beine hatte und krabbelte. Also stopfte Linus das reglose Insekt zurück in seine Tasche.
     
    Laurin stand mit Thoralf in der von Ahornbäumen gesäumten Seitenstraße, in der sich Udos Villa befand, und tastete hektisch in der halbmondförmigen Tasche seines Wamses nach dem Skarabäus. »Mein Späher«, keuchte er. »Wo ist er?«
    Sein Untertan begann hastig, den Boden im Umkreis von zehn Zwergenschritten abzusuchen, doch der Käfer war nicht aufzufinden. »Ich habe ihn verloren«, jammerte Laurin. »Wir müssen zurück!«
    Er rannte los.
     
    Durch das dichte Gebüsch vor neugierigen Blicken geschützt, langten die Zwerge just im Garten der protzigen Villa an, um zu sehen, wie der pummelige Junge seine kleine Schwester zu sich lockte und ihr »ein Bonbon« versprach. Doch nach einem

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