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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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grimmig und hetzte außer Atem seinem Herrscher nach, nichts als Ärger hatte man mit ihnen. Doch die Zwergenfrauen waren zwar meist unwillig und scheuten auch nicht davor zurück, ab und an ihre Fäuste gegen die männlichen Höhlenbewohner einzusetzen, aber sie versuchten wenigstens nicht, das halbe Volk zu vergiften, so wie dieses verfluchte rothaarige Frauenzimmer es getan hatte. Mit Genugtuung dachte Thoralf daran, was ihr widerfahren würde, wenn Laurin sie erst gefunden und in seine Höhle tief unten im Berg zurückgeschleppt hätte.
    Natürlich oblag die Bestrafung zuerst dem König, aber Thoralf war sich sicher, auch er würde sein Vergnügen mit Similde bekommen, hatte er doch seinen Herrscher treu und unermüdlich auf der Suche nach ihr begleitet. Bei der Erinnerung an die zarte, fast durchscheinende Haut des Mädchens, die er nur einmal kurz berührt hatte, nachdem er sie in des Königs Rosengarten ertappt hatte, und deren Weichheit er seitdem nicht mehr aus seinem Gedächtnis verbannen konnte, leckte sich Thoralf unwillkürlich die Lippen. Oh ja, das würde einmal etwas anderes sein als die plumpen Zwergenfrauen mit ihren ledrigen, harten Händen, die oft nach Hühnermist oder Zwiebeln rochen und die …
    Thoralfs vorfreudige Gedanken wurden harsch unterbrochen, weil ihm sein König einen Fausthieb gegen die Schulter verpasste.
    »Herr«, winselte er, doch Laurin legte unwillig den Finger an die Lippen. Thoralf folgte seinem Blick. Sie standen vor einer Art Schloss, jedenfalls kam es ihm so vor, obwohl die Zinnen und Schießscharten fehlten. Aber das Gebäude war riesig und von einer Art kleinem Park umgeben. Ein schwarzes, schimmerndes Gefährt, ähnlich denen, die sie schon mehrfach in unterschiedlichen Formen und Farben gesehen hatten und die wie von Zauberhand ohne davorgespannte Pferde fahren konnten, stand vor einer Art gemauerter Remise. Darin hätten alleine ein halbes Dutzend Zwerge bequem wohnen können, so geräumig sah sie aus.
    »Similde ist hier, und ich werde sie holen«, zischte Laurin und musterte unheilverkündend die massive Holztür, die den Zugang zu seiner entflohenen Braut versperrte.
    »Und wie wollt Ihr das anstellen?«, wagte Thoralf zu fragen. Immerhin war der magische Kiesel entwendet worden, mit dessen Hilfe diese Tür ein Kinderspiel gewesen wäre. Statt einer Antwort erhielt er eine schallende Ohrfeige.
    »Dummkopf«, fauchte Laurin. »Wagst du es etwa, an mir zu zweifeln?«
    Eingeschüchtert schüttelte Thoralf den Kopf. Er hütete sich, noch einmal den Mund aufzumachen, obwohl er ganz genau sah, dass sein König genauso ratlos war wie er selbst. Mit einem Mal sehnte sich Thoralf zurück in die feuchtkalte Dunkelheit seiner Felsenheimat. Die Menschenwelt machte ihn krank, das konnte er fühlen. War es ihm bei seinen kurzen Ausflügen an die Oberfläche möglich gewesen, einen ganzen Ochsen, den er oft des Nachts aus den Ställen der Bergbauern für ein Festmahl seines Zwergenvolks stahl, alleine hochzuheben, schienen ihn nun seine Kräfte verlassen zu haben. Er fühlte sich elend und schwach und ahnte, was die Ursache dafür war: die Menschlinge. Sie eilten durch die Straßen, fuhren schnelle Kutschen, sie redeten laut und hastig, schlangen Essen hinunter, während sie liefen, als würde ihr Leben nur wenige Tage dauern und sie all ihr Streben in diese kurze Zeit hineinpacken müssten. Thoralf schüttelte den Kopf, der seit einer Weile schon auf eine dumpfe, fiebrige Art schmerzte. Seinem Herrscher ging es ebenso, das konnte er sehen, auch wenn Laurin es niemals zugeben würde. Doch seine Augen waren stumpf, die Bewegungen matt und kraftlos. Trotzdem würde er nicht aufgeben, bis er Similde gefunden hatte. Ein Gefühl der widerwilligen Bewunderung für den eisernen Willen seines Herrn machte sich in Thoralf breit. Er war gespannt, wie er nun weiter verfahren würde, um in die Festung hineinzukommen.
    »Wir erkunden den Bau von allen Seiten und halten Ausschau nach einem anderen Eingang«, kommandierte Laurin, und die Büsche des Parks als Deckung nutzend, huschten die beiden Zwerge an der Längsseite des Hauses entlang und bogen ums Eck, bis sie vor einer gläsernen Tür standen, die ihnen einen ungehinderten Blick ins Innere ermöglichte. Doch statt Similde erblickten sie ein pummeliges Menschenkind, das einem dünneren, kleineren mit langen Haaren gerade eine Art rosafarbenen Rock aus der Hand riss. Kein Laut drang in den Garten, aber in der Art, wie das

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