Die gestohlene Zeit
Menschenmädchen das Gesicht verzog, konnte man das Drama erahnen, das sich dort drin abspielte. Nun setzte sich der Junge das rosa Ding, das mehrere Lagen aus Stoff besaß und aussah wie eine Wolke, auf den Kopf und tanzte damit durch das Zimmer.
Die beiden Zwerge tauschten einen Blick. »Menschlinge!«, spuckte Laurin verächtlich aus. »Je kleiner, desto dümmer!«
Dann winkte er Thoralf, und die beiden schlichen weiter. Der Blick durch das nächste Fenster zeigte ihnen eine Frau mit Haaren, so gelb wie das kurze Gras in den Bergen an einem heißen Sommermittag. Sie kniete mit dem Rücken zu den Zwergen am Boden und fuhr mit immerwährenden, kreisförmigen Armbewegungen über den Boden. Zwischendurch wrang sie über einer Art Kübel einen Lappen aus, aus dem rotbraune Flüssigkeit tropfte. Blut?
Nun drehte sich die Frau halb um, und Laurin sah ihr Profil. Das Gesicht war zu einer Grimasse des Zorns verzogen, und ihr Mund öffnete und schloss sich beständig. Auch hier war kein Wort zu hören, doch sie schien jemanden zu beschimpfen, den die Zwerge jedoch von ihrem Beobachtungsposten aus nicht sehen konnten.
Erneut schlichen sie weiter, doch durch das dritte Fenster sahen sie nur einen Raum, in dem kleine Hosen, Röcke und Kittel wild verstreut auf dem Boden lagen und das offensichtlich einem der Menschenkinder gehörte. Auch die anderen Räume zeugten zwar von Bewohnern, doch Similde war nirgendwo zu entdecken.
Vor Zorn stampfte Laurin heftig mit dem Fuß auf. »Sie muss hier sein! Mein Späher irrt nie«, rief er schrill.
»Vielleicht … vielleicht hat sie in der Zeit, die wir benötigten, um hierherzukommen, das Haus verlassen?«, wagte Thoralf einzuwerfen. Gleich darauf wünschte er sich, er hätte den Mund gehalten. Schon rechnete er mit einer Ohrfeige oder einem Fausthieb seines Herrn, doch Laurin schien ernsthaft über seinen Einwurf nachzudenken.
Ehe er jedoch zu einer Entscheidung kam, flog eine der gläsernen Türen zum Garten auf, und aufgebrachte Stimmen schrien durcheinander.
»Aber Linus hat mir mein Ballett-Tutu weggenommen und es sich auf den Kopf gesetzt«, jammerte ein dünnes Stimmchen.
»Gar nicht!«
»Wohl!«
»Gar nicht!!«
»Wohl!!!«
»Hört sofort auf!«, keifte eine etwas tiefere, aber eindeutig weibliche Stimme, die jedoch meilenweit von Simildes wohltönendem Sopran entfernt war, dachte Laurin bei sich.
»Ihr bleibt jetzt hier draußen und spielt friedlich, oder es setzt was!«
»Warum?«, quengelte einer der kleinen Menschlinge.
»Ich muss mit Papa … also, wir müssen uns eine Überraschung für Weihnachten ausdenken!«
»Das ist noch voll lang hin! Ihr wollt euch doch bloß anschreien, und wir sollen es nicht hören!«
Jetzt sprach offenbar das männliche der beiden Kinder.
»Linus, jetzt ist aber Schluss! Noch ein Wort, und es gibt für dich heute zum Abendbrot nur Salat!«
Schlagartig trat Stille ein, dann schlug eine Tür.
»Mit dir spiele ich nicht«, zischte der Junge, und gleich darauf sah Laurin ihn knapp an dem Busch, hinter dem er mit Thoralf kauerte, vorbeilaufen.
Laurin überlegte kurz, dann verzog sich sein Mund zu einem Lächeln und ließ sein faltiges Gesicht wie eine Ziehharmonika aussehen. Thoralf wollte seinen Herrn gerade fragen, was er vorhatte, als der schon lässig hinter dem Busch hervortrat, der ihn eben noch vor den Blicken der Menschlinge geschützt hatte. Fassungslos beobachtete der Zwerg seinen König, der auf das kleine, blonde Mädchen zuschlenderte, die ihn misstrauisch, aber ohne Furcht musterte.
»Bist du ein Hobbit?«, piepste sie und legte den Kopf schief.
»Vielleicht«, antwortete Laurin, wobei er versuchte, seiner Stimme einen schmeichelnden Ton zu verleihen, obwohl er keine Ahnung hatte, was das kleine Mädchen meinte.
»Höre, kleine Dame, ich suche einen Menschling … äh, eine Frau mit rotem Haar. Sie ist älter als du, aber dennoch jung, und hat Augen, so grün wie das Gras in eurem Park. Beherbergt ihr jemanden, der so aussieht?«
Die Kleine betrachtete Laurin von oben bis unten, dann kicherte sie. »Ne! Meine Mama hat blonde Haare und ist nicht jung. Und Papa ist keine Frau. Eine Schwester habe ich auch nicht, nur meinen doofen Bruder. Und außer uns wohnt keiner hier.«
Laurins Grinsen verrutschte. »Bist du sicher?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Das Mädchen nickte. »Warum bist du so hässlich?«, fragte sie dann und fixierte interessiert seine riesige, großporige Nase. Mit
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