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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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verschwunden.
    ***
     
    Irgendwo am Rande der Stadt machten sich zwei geschwächte Zwerge auf ihren mühsamen Weg in die heimischen Berge. Laurin war rasend vor Zorn und Enttäuschung. Er musste den Verlust seines Skarabäus hinnehmen, und die Stadt der Menschen war zu riesig, um darin Similde ohne die Hilfe seines magischen Spähers zu finden. Nun hatte er nicht nur die Spur seiner Braut verloren, sondern war auch vom Jäger zum Gejagten geworden.
    Was den König jedoch am meisten erschreckte: Er spürte zum ersten Mal die Zeit verrinnen, schnell und unbarmherzig. Und ebenso rasch schien seine Lebenskraft aus ihm herauszufließen, ein bisher nie gekanntes Gefühl. Da wurde Laurin klar, dass er durch den Verlust seines Rings sterblich geworden war.
     
    »Mann, du doofer Käfer!«, maulte Linus und versetzte dem schillernden Insekt, das mit eingezogenen Fühlern und Beinen auf dem Rücken lag, einen derben Schubs mit seinem pummeligen Zeigefinger. Er wusste nicht, dass nur der König der Zwerge den Skarabäus zum Leben zu erwecken vermochte, und so blieb das Insekt wie tot liegen, selbst als Linus es umdrehte und anpustete. Enttäuscht, weil der Käfer keine Regung zeigte und auch nicht loskrabbeln wollte, schmiss Linus ihn auf den Boden. Der schwarzgrün schimmernde Panzer war hart, und ein Sturz aus einem Meter Höhe konnte ihm nichts anhaben. Wohl aber die Sohle des Schuhs, mit dem Linus Sekunden später den Skarabäus zertrat. Das leise Knacken, mit dem eines von Laurins magischen Dingen zerstört wurde, war kaum zu hören.
    »Geschieht dir recht, blöder Mistkäfer«, sagte der dicke Junge hämisch und drehte extra noch einmal seine Schuhspitze hin und her, damit nichts mehr von dem Tier übrig blieb als ein nass-schwarzer Fleck auf dem Boden – und ein langes, rötliches Frauenhaar, das der Käfer um den Leib geknotet getragen hatte.
    Danach stapfte Linus mit einem Ausdruck grimmiger Genugtuung im Gesicht ins Haus zurück. Der dicke kleine Junge konnte nicht ahnen, dass seine Bosheit soeben über das Schicksal seiner Familie entschieden hatte.

[home]
    Kapitel 19
    K omisch, ich kann Spindler nicht erreichen! Ob er weggefahren ist?«, murmelte Lilly nach dem dritten Versuch, den pensionierten Lehrer ans Telefon zu bekommen. Stirnrunzelnd steckte sie ihr Handy weg. »Ich glaube, ich schwinge mich mal aufs Rad und fahre bei ihm vorbei, um zu schauen, ob er gut nach Hause gekommen ist. Und danach besorge ich uns was zu futtern. Mäckes?«
    Der Rabe legte fragend den Kopf schief.
    »Nein danke«, warf ich hastig ein, denn erstens wusste ich auch nicht genau, was Lilly damit meinte, und zweitens war es mir peinlich, ihr dauernd auf der Tasche zu liegen. Bisher hatten wir zwar nur ein paar Euro für den Clubabend im
Ambrosia
gebraucht, aber sie hatte uns schon die ganze Zeit durchgefüttert, und ich wollte ihr nicht noch mehr zur Last fallen, indem sie auch noch teures Essen einkaufte.
    »Lass uns lieber selbst was kochen«, fügte ich daher hinzu.
    Lilly schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie musterte mich nachsichtig.
    »Hör mal, falls du ein Problem wegen der Kohle hast … Meine Eltern haben mir genug dagelassen, um die halbe Nachbarschaft durchzufüttern. Sie hatten wohl Angst, ich könnte verhungern. Du warst Mas beste Freundin, also mach dir keinen Kopf!«, sagte sie und lächelte dasselbe schiefe Lächeln, das so typisch für Caro gewesen war. Sie erinnerte mich in diesem Moment so stark an ihre Mutter, dass ich schlucken musste.
    In einer Aufwallung von Rührung nahm ich sie in den Arm. »Danke«, murmelte ich und versuchte, mich nicht von der Sehnsucht nach meiner besten Freundin überwältigen zu lassen, sonst würde ich noch anfangen zu heulen.
    Lilly, die das anscheinend spürte, räusperte sich energisch. »Also, ich schwinge mich mal auf mein Bike und besorge uns was zu beißen«, verkündete sie. »Kann übrigens ’ne Weile dauern«, ergänzte sie und grinste mich beim Rausgehen kurz an. Durch das Fenster beobachtete ich, wie sie in die Pedale trat.
     
    Das weißgelbe Sonnenlicht hatte sich in ein sanftes Löwenzahngelb verwandelt, und der Abend schickte bereits seine blaugrünen Strahlen vor, um den Tag abzulösen. Wortlos setzte ich mich neben den Raben, und gemeinsam sahen wir die Sonne sinken. Langsam breitete sich die Sommernacht über dem Garten hinter Caros Haus aus und warf einen Sternenmantel über den Himmel. Als die Kirchturmuhren eine Stunde vor Mitternacht zu schlagen

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