Die gestohlene Zeit
längst zurück sein müssen! Hastig setzte ich mich auf und schlüpfte in das ärmellose, blaue Kleid, das sie mir geliehen hatte.
»Liebste, was ist mit dir?«, fragte Jonathan schläfrig und fuhr mit seinem Zeigefinger zart über mein Schulterblatt. Am liebsten wäre ich wieder in seine Arme zurückgesunken, aber die Sorge um Caros Tochter ließ mich aufspringen.
»Lilly ist noch nicht wieder da«, erklärte ich und sah einen Anflug von Unruhe, der über sein Gesicht huschte, wie eine Wolke, die sich kurz vor die Sonne schiebt. Er griff nach seinen Kleidern und zog sich schnell und geschmeidig Jeans und Pulli an, bevor er hinter mir herlief. Vielleicht war Lilly ja unbemerkt nach Hause gekommen und würde gleich über unsere Sorge lachen? Doch im Inneren war alles dunkel, und nur die Stille antwortete auf meine Rufe nach ihr. In meinem Magen schienen auf einmal ein paar Steine zu liegen, und der Gedanke, was ihr wohl passiert sein mochte, ließ mich wie gelähmt mitten im Zimmer verharren, durch dessen staubige Fensterscheiben das milchige Licht des Vollmonds fiel.
»Wenn Udo sie erwischt hat …«, fing ich an, doch die Angst schnürte mir die Kehle zu, und ich konnte nicht weitersprechen. Schreckliche Bilder von Lilly, die in dem Sessel kauerte, in dem auch ich gesessen hatte, während Udo seine Pistole nun auf sie richtete, zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Ich sah ihn die Waffe entsichern, sah ihre Augen sich in Todesangst weiten …
»Emma, ganz ruhig«, sagte Jonathan da und zog mich an sich. »Udo kennt Lilly doch gar nicht, wie soll er ihr da etwas tun?«, fuhr er fort.
Daran hatte ich in der Aufregung gar nicht gedacht. Erleichtert machte ich mich von ihm los. »Du hast recht. Aber wo steckt sie bloß?«
»Mäckes?«, sagte Jonathan fragend und imitierte Lillys Aussprache dabei so perfekt, dass ich trotz meiner Angst lachen musste.
»Ich nehme mal an, sie hat so einen Fastfoodladen gemeint, den es auch zu meiner Zeit schon gab«, erklärte ich und versuchte, ihm das Prinzip dieser Ketten klarzumachen. Er verzog das Gesicht. »Das klingt … interessant«, sagte er und sah dabei so skeptisch drein wie die abgehalfterten Stars aus dieser Fernsehshow, denen man im Dschungel gebratene Maden und Ähnliches vorsetzt. Dank Lilly war ich auch diesbezüglich auf dem neuesten Stand.
Trotzdem, dachte ich, und das Gefühl der Bedrohung breitete sich weiter in meinem Herzen aus wie eine zähe, schwarze Öllache: Es war kurz vor Mitternacht und Lilly längst überfällig. Zwar hatte ich es nach einigen Versuchen geschafft, im Speicher von Caros Telefon ihre Handynummer zu finden, doch alle Versuche, sie zu erreichen, scheiterten an der mechanischen Ansage, der gewünschte Teilnehmer wäre nicht erreichbar.
»Wir gehen sie suchen«, beschloss ich.
»Nein, Emma,
ich
gehe sie suchen. Für dich ist es zu gefährlich, kurz vor deiner Verwandlung auf die Straße zu gehen. Was, wenn Udo dich sieht?«, argumentierte Jonathan.
»Aber ich kann doch nicht hierbleiben und nichts tun, während du …«
»Liebste«, unterbrach er mich und umfasste mit festem Griff meine Schultern, »ich lasse nicht zu, dass Udo dir noch einmal etwas antut und dir das geschieht, was mir widerfahren ist. Die Rose hat ihre Kraft verloren, also dürfen wir kein Wagnis eingehen!«
Sein Argument war vernünftig, das musste ich mir eingestehen. »Also gut«, gab ich nach, »aber bitte pass auf dich auf …«
Ich hatte noch nicht ausgeredet, da durchschnitt ein schmaler Lichtkegel die Nacht, und kurz darauf knirschten Reifen auf dem Kies vor dem Haus. Zu meiner Erleichterung sah ich Lilly mit ihrem üblichen Schwung vom Rad und die Stufen zum Haus hinaufspringen. Ich atmete auf, aber gleich darauf sah ich ihr blasses Gesicht, und bevor ich noch fragen konnte, was denn los war, sprudelte sie hervor: »Spindler ist im Krankenhaus!«
Udo!, war mein erster Gedanke. Er hatte Spindler aufgelauert und das getan, was ihm bei mir nicht gelungen war. Ich schlug die Hände vors Gesicht und spürte das Zittern, von dem mein ganzer Körper geschüttelt wurde.
»Hat er … auf ihn geschossen?«, flüsterte ich heiser und brachte kaum die Worte heraus, so sehr kratzte die Angst in meiner Kehle.
»Geschossen? Hä?« Lilly sah mich entgeistert an, dann kapierte sie. »Nicht, was du denkst, Emma! Udo hat damit nichts zu tun – ausnahmsweise! Spindler hat’s mit dem Herzen. Wahrscheinlich ein leichter Infarkt, meinte der Notarzt«, erklärte
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