Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
ein Hoffnungsschimmer auf. Hastig redete ich weiter: »Ihr geht wieder dahin zurück, wo ihr hergekommen seid, ich verschwinde ins Tal – und ihr vergesst einfach, dass ihr mich gesehen habt. Dann wird euch nichts geschehen.«
    Und mir auch nicht, ergänzte ich in Gedanken.
    Ein paar Augenblicke lang herrschte Schweigen. Einer der Zwerge legte seine zerfurchte Stirn in noch tiefere Falten, die anderen rieben sich ihre dicke Nasen oder spuckten nachdenklich durch die Lücken in ihren gelblichen Vorderzähnen auf den Boden. Vor Anspannung ballte ich die Hände zu Fäusten. Ich wollte so schnell wie möglich von diesem Alptraum weg. Inzwischen war die Sonne hinter den Bergspitzen versunken, und die ersten Sterne blinkten wie kleine Taschenlämpchen am Himmel auf. Der Garten war verschwunden. Statt der dunkelroten Blütenpracht erblickte ich nur kahlen, grauen Fels.
    »Der Gedanke ist nicht töricht«, war schließlich der verschrumpelte Zwerg zu vernehmen, der die anderen davon abgehalten hatte, mich abzuschlachten. Ein wildes Gefühl des Triumphs durchströmte mich, da fuhr er nachdenklich fort: »Aber wenn der Herrscher erfährt, dass wir
sie
gefunden und nicht zu ihm gebracht haben, wird er uns erst recht zürnen.« Augenblicklich kehrte die Furcht zurück und schlang sich eng um meinen Hals. »Nein, nein!«, rief ich und versuchte, nicht hysterisch zu schreien. »Euer Herrscher erfährt das doch nicht. Ihr haltet einfach alle den Mund – und ich kann ihm auch nichts verraten, weil ich ja gar nicht mehr da bin!« Mit diesen Worten begann ich mich langsam rückwärtszubewegen. Ich wollte möglichst viel Abstand zwischen sie und mich bringen, um dann in einem Blitzstart loszurennen. Platzwunde hin oder her, aber meinen Abi-Schnitt hatte ich mit der vollen Punktzahl in Leichtathletik gerettet. Da würde ich auch ein paar kurzbeinige Zwerge abhängen. Ich musste nur aufpassen, wohin ich lief, weil der Hang nach einer Seite steil abfiel und in eine tiefe Schlucht mündete. Einen Augenblick lang dachte ich tatsächlich, ich könnte es schaffen. Doch in der Sekunde, in der ich losrennen wollte, schrie der Anführer »Haltet sie!«, und schon war ich wieder umzingelt. Trotz ihrer O-Beine waren diese Wesen verdammt schnell!
    »Wir sind unserem König verpflichtet. Daher werden wir dich zu ihm bringen. Möge er uns strafen, wie es ihm beliebt«, ordnete der Wortführer der Zwerge in seiner hochgestochenen Ausdrucksweise an.
    Trotz heftiger Gegenwehr packten mich die klauenartigen Hände, und zwei Zwerge schleiften mich zu einer Felsspalte, die gerade breit genug war, dass ich hindurchpasste. Mein letzter Blick, ehe ich gewaltsam in die Dunkelheit geschoben wurde, galt meinem Rucksack, der im Gras lag. Einer der hässlichen Gestalten bückte sich danach und schleuderte ihn dann in hohem Bogen über den Abhang in die Schlucht. Damit verschwand auch meine letzte Hoffnung, all das könnte nicht real sein. Ein letzter Schubs, und ich stolperte in die klamme Schwärze, wobei es mir schien, als träte ich durch das Tor zur Hölle. Noch wusste ich nicht, wie recht ich damit haben sollte.

[home]
    Kapitel 2
    I mmer tiefer und tiefer ging es in den Berg hinein. Ich sah so gut wie nichts, kein Lichtstrahl drang ins Innere des Felsens. Nur ein schwacher Schimmer von ein paar merkwürdig leuchtenden, runden Kieseln, die einige der Zwerge aus ihren Kitteltaschen gezogen hatten, beleuchtete notdürftig den glitschig-nassen Steinpfad, der in ihr Reich führte. Anfangs bäumte sich mein Verstand immer noch gegen die Vorstellung auf, von ein paar rabiaten Zwergen entführt zu werden. Doch je weiter es hinunterging und je finsterer es um mich wurde, desto mehr versank ich in eine dumpfe Hoffnungslosigkeit. Es war, als würde der Berg allen Überlebenswillen aus mir heraussaugen, während ich, flankiert von meinen Bewachern, mehr rutschte als lief. Da half es auch nicht mehr, mir vor Augen zu führen, dass es sowohl den Rosengarten als auch Zwerge nur im Märchen gab. Doch plötzlich musste ich an Caro denken, und ich erinnerte mich, wie wir noch vor ein paar Tagen in ihrem Studentenzimmer gehockt hatten und sie atemlos meinem Bericht aus dem Sagenbuch lauschte. Der verzweifelte Wunsch, meine beste Freundin wiederzusehen, ließ meinen Überlebenswillen wieder aufflackern und ich grübelte fieberhaft, welche Lösung es gab, zu entkommen. Vielleicht sollte ich zunächst überlegen, wie ich nun diesem »König«, von dem die rabiaten Zwerge so

Weitere Kostenlose Bücher