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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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wirklich!«
    »Darauf kannst du wetten, du verdammtes Biest!«, zischte Udo, und der Lauf seiner Waffe folgte den Kreisen, die der Rabe über uns zog. Zwar war er zu hoch, um getroffen zu werden, doch sobald Jonathan hinunterstoßen sollte, würde er eine Zielscheibe für ihn abgeben.
    »Hör auf, du kannst uns nicht helfen«, rief ich zu dem schwarzen Vogel hinauf. Doch ich konnte seine Entschlossenheit fühlen, mich und Lilly zu verteidigen – notfalls mit seinem eigenen Leben.
    »Bitte!«, schrie ich aus voller Kehle. Ich hatte schreckliche Angst, Jonathan würde nicht auf mich hören und in einer selbstmörderischen Aktion versuchen, Udo dennoch zu attackieren. Ich flehte meinen Liebsten in Gedanken an, es nicht zu tun, denn ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas passieren würde. Nicht noch einmal.
    Quälende Sekunden verstrichen, während der Rabe, der sich ähnlich einem schwarzen Totempfahl gegen den strahlend blauen Himmel abhob, beinahe regungslos hoch oben in der Luft stand. Vor Anspannung grub ich die Fingernägel so fest in meine Handflächen, dass sie kleine, dunkelrote Halbmonde in der Haut hinterließen. »Jonathan, bitte! Flieh!«, dachte ich mit allen Fasern meines Herzens.
    Endlich schraubte sich der Rabe mit einem zornig-verzweifelten Schrei noch ein Stück höher und flog anschließend einige Meter parallel zu einer Felsenschlucht, ehe er meinem Blick entschwand.
    »Schwein gehabt, du Satansgeier!«, höhnte Udo. Inzwischen hatte er die Waffe wieder auf Lilly gerichtet. »Und jetzt her mit dem Klunker!«, kommandierte er an mich gewandt. Besser, ich gab ihm, was er verlangte, ehe diesmal wirklich einer von uns starb.
    Dann aber wurde mir klar, wie wenig es Lilly und mir nützen würde, Udo den Ring auszuhändigen. Sobald er ihn in Händen halten würde, konnte er keine Mitwisser mehr gebrauchen. Und wer sollte hier in der völligen Einsamkeit der Berge einen Schuss hören? Sollten ein paar Bergsteiger den Knall doch vernehmen, würden sie höchstens denken, er käme von einem Jäger auf der Pirsch, und nur eine Gämse oder ein Reh würden ihr Leben lassen.
    Meine Gedanken überschlugen sich, und mein Herz donnerte mit dumpfen Schlägen gegen meinen Brustkorb wie ein rasendes Metronom, das mich daran erinnern sollte, dass meine Zeit bald ablief. Ungeachtet der schrecklichen Angst, die ich ausstand, klang meine Stimme ruhig.
    »Erst lässt du Lilly frei. Dann gebe ich dir den Ring.«
    Udo lachte auf. Das Geräusch ähnelte jedoch weniger einem menschlichen Laut, sondern eher dem Schrei eines Raubvogels, ehe der sich auf seine Beute stürzt. Mir kroch eine kalte Gänsehaut zwischen die Schulterblätter, als habe Laurins knöcherner Finger meine Wirbelsäule entlanggestrichen.
    »Du bestimmst hier nicht die Regeln, Emma!«, rief Udo mit überkippender Stimme, und ein irres Grinsen verzerrte seinen Mund, während seine Augen aufgerissen und starr auf mich gerichtet waren. Schweiß lief ihm in Bächen über sein feistes Gesicht, aber er schien es nicht zu bemerken. »Ich sage, wo es langgeht, und du richtest dich gefälligst danach, sonst …«
    Er riss den Revolver hoch und presste Lilly den Lauf nun von vorne zwischen die Augen. Sie wimmerte, und ich wäre am liebsten blind vor Wut nach vorne gestürzt und hätte diesem miesen Kerl das Gesicht zerkratzt. Stattdessen zog ich den Ring aus der Hosentasche. Das warme Gold blitzte in der Nachmittagssonne, und ein unverhohlener Ausdruck von Gier trat in Udos Augen. Ich spürte, dass nicht einmal die Macht des Rings in meinem Besitz dagegen ankam.
    »Ja«, hauchte er wie ein verliebter Teenager, »das wird mir alles zurückbringen, was ich verloren habe. Ich werde alles bekommen. Für immer und immer und …«
    Blitzschnell machte ich einen Schritt zur Seite und tauchte halb hinter einem hüfthohen Felsbrocken ab, so dass ich nicht in Udos unmittelbarer Schusslinie stand. Den Schmuck in meiner Faust eingeschlossen, hob ich den Arm.
    »Du lässt Lilly frei, oder ich werfe den Ring in die Schlucht!«, schrie ich und funkelte ihn an. »Ich meine es ernst, Udo! Du bringst mich sowieso um, aber wenn du Lilly nicht gehen lässt, dann siehst du deinen Schatz nie wieder! Ehe du mich erschießen kannst, werfe ich den Ring fünfzig Meter tief, ich schwöre es dir!«
    Ich holte aus. Selbst wenn ich nicht überlebte, konnte ich doch wenigstens Lillys Leben retten. Es wäre mein letzter Freundschaftsdienst für Caro, dass Udo ihr nicht auch noch die Tochter

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