Die gestohlene Zeit
mich – seine einzige Zeugin – gnadenlos erschießen. Ich konnte nur hoffen, Lilly wäre inzwischen weit genug fortgelaufen und hatte sich irgendwo verstecken können, damit er sie nicht doch noch fand. Und dass Jonathan nicht mit ansehen würde, wie mein lebloser Körper zu Boden sank.
Fieberhaft versuchte ich, mir für meine letzten Sekunden ein paar glückliche Augenblicke ins Gedächtnis zu rufen. Ich wollte das Bild von Caros Haus heraufbeschwören, den nächtlichen Garten, in dem Jonathan und ich gelegen und uns geliebt hatten, das erste und einzige Mal in unserem Leben … Doch es gelang mir nicht. Stattdessen sah ich meinen Liebsten, der um mich trauerte, und die weinende Lilly. Der einzige Gedanke, der mir klar vor Augen stand, war: Ich wollte nicht sterben! Nicht jetzt, nicht auf diese gewaltsame, schreckliche Weise und vor allem nicht, ohne wenigstens Jonathan von dem Fluch zu erlösen, der ihn in die Gestalt des Raben zwang, bis zu seinem Tod … Doch die Chance, lebend davonzukommen, ging gegen null. Denn nun hob Udo den Kopf und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen.
Ehe er jedoch den Revolver heben konnte, prallte eine schmächtige Gestalt gegen ihn, so dass Udo ein paar Schritte rückwärtstaumelte. Es war Frank. Er packte Udo am Handgelenk und versuchte, ihm den Ring zu entreißen.
»Sie hat recht! Jetzt bin ich mal dran!«, keifte Frank und zerrte an Udo. Der versuchte, seinen Kumpel abzuschütteln wie eine lästige Fliege. »Bist du verrückt geworden? Der Ring gehört mir!«, schrie er. Normalerweise hätte Frank jetzt gekuscht, aber ich hatte gesehen, was der magische Schmuck mit ihm gemacht hatte. Nun nistete auch in Franks Herzen die Habgier und ließ ihn alles vergessen, denn statt zurückzuweichen, schlug er Udo hart auf dessen Handgelenk. Der brüllte zornig auf und versetzte ihm mit der rechten Faust, in der er den Ring hielt, einen Schlag. Er hatte schlecht gezielt, und statt das Kinn zu treffen, riss der grüne Stein die Haut von Franks Oberlippe auf. Ich zog unwillkürlich scharf den Atem ein, als ich Blut aus einem tiefen Riss fließen sah.
Doch Frank schien keinen Schmerz zu spüren. Langsam, fast zärtlich legte er seine rechte Hand an die Stelle, an der ihn der Ring verletzt hatte. Dann suchte er Udos Blick und lächelte ihn mit blutigen Zähnen an. Meine Nackenhaare sträubten sich. Frank ähnelte einem wilden Krieger, dessen einziges Ziel es war, zu vernichten. In diesem Fall seinen besten Freund. Dem schien ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn seine Miene war zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, nicht mehr überheblich, sondern beinahe furchtsam. Allerdings nur für eine Sekunde. Dann fletschte auch er die Zähne, und die beiden Männer begannen, sich zu umkreisen – lauernd und zu allem entschlossen.
Udo griff als Erster an und versuchte noch einmal, Frank durch einen Schwinger außer Gefecht zu setzen. Erstaunlich behende duckte der sich jedoch, sprang vor und rammte Udo seinen Kopf in den Magen. Mit einem Ächzen krümmte sich der übergewichtige Mann zusammen, riss jedoch dabei das rechte Knie hoch. Mit einem hässlichen Knirschen traf seine Kniescheibe auf Franks Kinn, der sich gerade aufrichten wollte. Ich erwartete, dass er nach einem solchem Schlag nun k.o. ging, aber der Hass und die Habsucht ließen ihn offenbar keinen Schmerz verspüren. Obwohl er wankte, fiel er nicht, sondern stürmte erneut auf Udo zu. Er glich einem wildgewordenem Stier, und Udo hatte mit dieser Attacke wohl nicht gerechnet, denn er blieb einfach mit offenem Mund stehen. Schon prallte Frank gegen ihn, und mit einem dumpfen Laut gingen beide Männer zu Boden. Dort begannen sie verbissen, miteinander zu ringen. Dass Udo dabei die Pistole losgelassen hatte, die nun harmlos im Gras lag, schien keinem von beiden aufzufallen.
Franks blutige Oberlippe war so weit zurückgezogen, dass er einem grinsenden Totenschädel ähnelte, während sein Gegner mit zusammengepressten Lippen einen Schlag nach dem anderen plazierte. Obwohl sie brutal aufeinander einprügelten, gab keiner von ihnen einen Laut von sich. Nur ein dumpfes Klatschen, wenn die Fäuste ein Ziel trafen, war zu vernehmen. Es war gespenstisch.
Ich konnte die beiden nur hypnotisiert anstarren, bis mich plötzlich etwas an der Schulter streifte: Jonathan war unvermittelt aufgetaucht und flog nun knapp an mir vorbei, während er mahnend krächzte. »Lauf weg«, sollte das heißen. Ich wollte ihm gehorchen, aber
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