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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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meinen Schuh geschlüpft war und ihn fest geschnürt hatte, konnte ich auch einigermaßen schmerzfrei laufen.
    »Es geht mir gut, keine Sorge«, sagte ich zu dem Raben, der aufgeflattert war und nun aufgeregt krächzend einen Kreis um meinen Kopf zog, ehe er pfeilschnell in den Himmel schoss. Verwundert blickte ich ihm nach, da blitzte in meinem Kopf das Wort »Gefahr« auf.
    »Jo…«, begann ich, da hörte ich unvermittelt eine helle Stimme meinen Namen rufen. Ich wirbelte herum und sah zu meiner Verblüffung Lilly, halb verborgen hinter einer Gruppe Findlinge.
    Eine Sekunde lang war ich überzeugt, ein Gespenst zu sehen. Dann jedoch bemerkte ich, dass ihr Gesicht nicht nur totenbleich, sondern auch tränenüberströmt war.
    »Es tut mir so leid, Emma«, schluchzte sie. »Ich wollte dich nicht verraten, aber er hat die Pistole und … er hat mir gedroht …« Sie konnte nicht weitersprechen.
    »Was, wer …«, stotterte ich, doch ich wurde erneut unterbrochen. Diesmal von einer Stimme, die mir ebenfalls nur zu gut bekannt war, von der ich aber gehofft hatte, sie nie wieder hören zu müssen.
    »Deine kleine Freundin war so nett, uns zu sagen, wo wir dich finden«, sagte Udo, der wie der böse Teufel im Kasperletheater nun ebenfalls hinter den Findlingen aufgetaucht war. »Wie gut, dass ich so ein schnelles Auto habe. Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde mir meinen größten Schatz von dir wegnehmen lassen?«, fügte er hämisch hinzu. Er und Frank mussten mir gefolgt sein – mit Lilly als Geisel.
    »Wir haben die Kleine im Krankenhaus aufgegabelt«, beantwortete Udo meine unausgesprochene Frage. »Der alte Spinner hat ja leider vorher schon den Löffel abgegeben, aber wir haben trotzdem rausgefunden, was du vorhast!«
    Damit versetzte er Lilly einen derben Stoß, und sie stolperte mit einem Aufschrei hinter den Felsbrocken hervor, gefolgt von Udo. Jetzt sah ich auch den Revolver in seiner rechten Hand, dessen Lauf er Lilly gegen den Hinterkopf hielt, während er sie mit dem linken Arm um die Kehle packte, um sie an der Flucht zu hindern. Ich konnte die Szene nur starr vor Entsetzen verfolgen. Und als wäre es nicht schon schrecklich genug, die Tochter meiner Freundin in Todesangst zu sehen, bedroht von dem Mann, der auch mir und Jonathan schon nach dem Leben getrachtet hatte, tauchte hinter dem Felsen nun auch das Frettchengesicht von Frank auf.
    »Hallo, Emma. Lange nicht gesehen«, sagte er. Die Hände in den Taschen seiner abgeschabten Jeans vergraben, versuchte er, lässig zu wirken, doch sein linkes Augenlid zuckte nervös, und ich konnte erkennen, wie unheimlich ihm die Begegnung mit mir war. Trotz meines Schocks blieb mein Blick wie magisch angezogen ein paar Augenblicke an ihm hängen, so sehr hatte er sich in den siebenundzwanzig Jahren verändert. Aus dem schmächtigen Jungen mit den Hasenzähnen und dem fliehenden Kinn war ein dürrer, bleicher Mann geworden, dessen Gesicht durch scharfe Falten um den Mund zehn Jahre älter wirkte. Während er jetzt die Hände aus den Hosentaschen nahm, konnte ich das Zittern seiner Finger sehen. Die aufgeplatzten Äderchen rund um seine Nase und die Tränensäcke zeugten von zu viel Alkohol. Udos Stimme unterbrach meine Gedanken.
    »Worauf wartest du noch? Du weißt doch ebenso gut wie die Kleine hier, was ich will!«
    Ich bemerkte, wie Lilly nach oben schielte. Ich folgte ihrem Blick und sah gerade noch einen schwarzen Schatten herabstoßen. Jonathan! Mit angelegten Flügeln stürzte er wie ein Pfeil auf Udo herab. Doch Frank hatte den Raben ebenfalls entdeckt. »Udo! Pass auf!«, brüllte er, und reflexartig duckte dieser sich, so dass Jonathans Schnabel sein Gesicht um ein paar Zentimeter verfehlte.
    »Scheißvogel!«, heulte er auf und fuchtelte abwehrend mit der Hand, in der er die Pistole hielt. Ein Schuss löste sich, und ich schrie auf. Wie ein Film lief die Szene in Udos Arbeitszimmer vor meinen Augen ab: der ohrenbetäubende Knall aus der Waffe, die einzelne schwarze Feder, die zu Boden fiel, und der blutende Rabe, der sich auf dem Rücksitz von Spindlers Auto im Todeskampf in Jonathans menschliche Gestalt zurückverwandelte …
    Da hörte ich ein wütendes Krächzen und sah den schwarzen Vogel mehrere Meter über Udos Kopf hinwegsegeln. Er war unversehrt, schien jedoch erneut zu einem Angriff ansetzen zu wollen. Udo hob den Revolver.
    »Jonathan, nicht«, schrie ich, so laut ich konnte. »Sonst erschießt er dich diesmal

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