Die gestohlene Zeit
meine Beine schienen am Boden festgewachsen. Ich konnte meinen Blick nicht von den kämpfenden Männern wenden, die immer noch zäh und verbissen am Boden miteinander rangen, wobei sie dem Abgrund zu der tiefen Felsenschlucht immer näher kamen.
Nur verschwommen nahm ich den Raben wahr, der kurz im Gras landete und dann mit der Waffe im Schnabel wieder aufflog. Sie war sichtbar zu schwer für ihn, denn Jonathan hielt sich nur mit Mühe in der Luft.
Ich hoffte im Stillen, dass er sie nicht zu mir bringen würde. Ich konnte mit so einem Ding nicht umgehen, und allein die Vorstellung, auf Udo oder Frank zu zielen, war mir zuwider, auch wenn ich allen Grund hatte, den beiden das Schlechteste zu wünschen. Offenbar hatte der schwarze Vogel jedoch nichts dergleichen im Sinn, denn kaum schwebte er über dem Rand des Abhangs, öffnete er den Schnabel und ließ seine Beute fallen. Ein kurzes, dunkelmetallenes Aufblitzen war das Letzte, was ich von der tödlichen Bedrohung sah, ehe sie mehrere Meter tief zwischen den Felsen verschwand. Nun würden weder Udo noch Frank einen von uns mehr erschießen können.
Keiner der Männer hatte bemerkt, was mit der Pistole geschehen war, denn sie schlugen immer noch aufeinander ein. Inzwischen bluteten beide aus der Nase, außerdem war Udos linkes Auge zugeschwollen und begann, sich blaurot zu färben. Im Gegenzug spuckte Frank gerade etwas Weißes aus, in dem ich schaudernd einen seiner Schneidezähne erkannte.
Wieder schoss Jonathan knapp über meinem Kopf vorbei – eine erneute Warnung –, aber ich konnte oder wollte nicht fliehen. Da Udo nicht mehr im Besitz der Pistole war, war ich nicht bereit, jetzt aufzugeben. Ich wollte wieder vierundzwanzig Stunden am Tag ein Mensch sein, und dasselbe wünschte ich mir für Jonathan. Irgendein Gefühl hielt mich davon ab, den Ring als verloren anzusehen.
Bereits im nächsten Moment bereute ich es, denn Udo hatte die Oberhand gewonnen. Es gelang ihm, seinen halb bewusstlosen Gegner abzuschütteln und sich schwankend aufzurichten. Schwer atmend stand er da, und sein Blick irrte suchend über das graubraune, harte Gras. Suchte er die Pistole? Oder … den Ring! Er hatte ihn scheinbar bei der Rangelei verloren! Jonathan schien denselben Gedanken gehabt zu haben, denn wie ein schwarzer Pfeil schoss er zu der Stelle, wo etwas zwischen den Grasstoppeln glänzte. Doch er kam eine Sekunde zu spät, denn Udo hatte das Aufblitzen ebenfalls gesehen. Schon sah ich ihn sich bücken. Doch auch der am Boden liegende Frank hatte die Kostbarkeit erspäht. Mit einer für seine schmerzhaften Blessuren ungewöhnlichen Schnelligkeit rollte er sich herum, streckte den Arm aus und schloss seine Faust um den glänzenden Schmuck. Unmittelbar darauf stieß er einen grässlichen Schrei aus: Udo war ihm mit dem schweren Schuh und seinem ganzen Gewicht auf die Hand getreten. Ein furchtbares Knacken verriet, dass er seinem Rivalen wahrscheinlich sämtliche Finger gebrochen hatte. Wie eine Natter schoss Udos Hand nach vorne und riss den Ring aus Franks kraftlosen Fingern.
»Er gehört mir! Mir! Mir!«, brüllte er, »und niemand nimmt ihn mir weg, niemals!«
Keuchend und mit weit aufgerissenen Augen hielt er den Schmuck gegen das Licht und starrte ihn an, ohne zu merken, dass ihn nur wenige Schritte vom Abgrund trennten. Frank lag immer noch am Boden, doch auch sein Blick war unverwandt auf den Ring gerichtet, und in seinen Augen stand der gleiche träumerische Ausdruck wie bei Udo. Seine linke, gebrochene Hand hing kraftlos herunter, trotzdem schaffte er es, auf die Knie zu kommen und ein Stück auf seinen Rivalen zuzukriechen.
»Nicht … immer nur du!«, stieß er abgehackt und mit monotoner Stimme hervor. »Ich … war immer der Dumme. Jetzt … will ich meinen Anteil!«
Udo musterte ihn mit dem angewiderten Ausdruck eines Monarchen beim Anblick einer Ratte, die soeben aus dem Rinnstein kroch.
»Du«, sagte er zu Frank, und in seiner Stimme lag abgrundtiefe Verachtung, »wirst den Ring niemals bekommen. Weißt du auch, warum, Frankie? Weil du der geborene Loser bist. Das war schon immer so, und das wird sich nie mehr ändern.«
Mit diesen Worten versetzte er seinem ehemaligen Banknachbarn einen verächtlichen Fußtritt gegen die Schulter. Nicht einmal grob, sondern eher so, als würde ein Kind eine tote Qualle am Strand anstupsen, um zu sehen, ob sie nicht doch noch einmal schwach zuckt. Und obwohl ich allen Grund hatte, Frank genauso zu hassen wie Udo,
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