Die gestohlene Zeit
mitzunehmen.
Der Wanderpfad zum Rosengarten begann an dem Parkplatz beim Skilift, an dessen Fuß Jonathan und ich bei unserer Flucht in Josefs » SUV « gestiegen waren. Heute standen nur wenige Autos auf der planen Fläche. Es war erst eine Woche her, seit wir Laurin entkommen waren, und doch kam es mir vor, als seien seitdem Monate vergangen. Damals hatte ich noch keine Ahnung gehabt, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war.
Nun stand ich wieder an der gleichen Stelle, doch ich war eine andere geworden. Und dort, wo ich nie wieder hinwollte und alles seinen Anfang genommen hatte, würde ich es jetzt zu Ende bringen.
Bestimmt hatte sich der junge Förster gewundert, wieso ich in leicht hysterisches Kichern ausgebrochen war, als er mir sagte, der Skilift trüge den Namen »Laurin-Lift«.
»Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen«, murmelte ich und stieg aus. Der Fahrer schenkte mir noch einen irritierten Blick, ehe er wendete und Gas gab. Nach meiner Handynummer, die er zu Beginn der Fahrt noch unbedingt hatte wissen wollen, fragte er nicht mehr.
Sobald das Geräusch seiner Reifen verklungen war, hatte ich ihn auch schon vergessen. Ich hatte den Raben aus dem Rucksack gelassen, und er war erleichtert zu einem kurzen Erkundungsflug aufgebrochen.
Es war jetzt ungefähr halb fünf Uhr nachmittags, und der Aufstieg würde mich ungefähr vier Stunden kosten. Spontan wünschte ich, fliegen zu können wie Jonathan, dann hätten wir den Weg wahrscheinlich in der Hälfte der Zeit geschafft. Gerade als ich anfing, ärgerlich zu werden, weil mein gefiederter Freund sich einfach davongemacht hatte, erblickte ich einen schwarzen Schatten, der rasch näher kam. Mit einem leisen Krächzen ließ sich Jonathan auf meinem ausgestreckten Arm nieder. Er strahlte Zufriedenheit aus, und ich wusste, dass wir am richtigen Ort waren.
***
Zwei Stunden später saß ich fluchend auf einem flachen Stein. Vor mir ragte die Kulisse des mächtigen Bergmassivs auf, und die imposanten Gipfel hoben sich in kitschpostkartengleicher Schärfe von dem wasserblauen Himmel ab, doch ich hatte kein Auge dafür. Verzagt betrachtete ich die nässende, rote Stelle knapp oberhalb meiner Ferse. Zuerst war es beim Laufen nur ein leichter Druck gewesen, den ich verbissen ignoriert hatte. Schließlich wollte ich ja so schnell wie möglich zu Laurins Berg. Ich lief also so lange weiter, bis der drückende Schmerz sich zu einem fiesen Brennen ausgewachsen hatte und ich nur noch humpelnd vorwärtskam. Noch bevor ich mir den Schuh auszog, wusste ich, was mich erwartete: Ich hatte mir eine kapitale Blase gelaufen und den dümmsten Fehler gemacht, den man bei einer geplanten Bergtour begehen konnte – ich hatte Pflaster vergessen.
Der Rabe trippelte um mich herum und beäugte die aufgescheuerte Stelle, die so groß wie ein Zehn-Cent-Stück war und sich leuchtend hellrot von meiner Haut abhob. Ich ahnte seine Gedanken und nickte.
»So kann ich nicht weiterlaufen, Jonathan. Die Schmerzen werden sonst immer schlimmer!«
Hätte ich nur eine von Laurins Rosen!, dachte ich. Mit ihrer Heilkraft wäre so ein wundgelaufener Fuß blitzschnell wieder in Ordnung. Aber da es bis zum Rosengarten noch ungefähr zweieinhalb Stunden Fußmarsch waren, musste ich mir irgendetwas überlegen, um überhaupt weitergehen zu können. Kurz entschlossen leerte ich den Inhalt des gesamten Rucksacks, den Lilly mir von ihrem Vater geliehen hatte. Tatsächlich fanden sich neben der Kleidung für Jonathan, ein paar Müsliriegeln und einem Apfel sowie einem Zollstock und einer Miniaturwasserwaage – offenbar nahm Lillys Vater den Rucksack ab und an mit zur Arbeit – ein angebrochenes Päckchen Taschentücher und eine Rolle Klebeband. Zwar war es für das Abkleben von Kanten beim Streichen und Tapezieren von Wohnungen gedacht, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Zum Schluss fiel noch ein dickes Stück Filz aus dem Rucksack, das wahrscheinlich unter ein Stuhlbein gehörte, jedoch einen guten Dämpfer zwischen Ferse und Schuh abgeben würde. Im Geiste dankte ich dem Schicksal, das Lilly einen Architekten als Vater geschenkt hatte, der so nützliche Dinge in seinem Rucksack vergraben hatte.
Zehn Minuten später hatte ich aus all den Utensilien einen improvisierten Verband gebastelt. Das Klebeband war mehrfach um meinen Knöchel gewickelt, und die Konstruktion sah alles andere als professionell aus. Wenigstens hatte ich aber keine offene Wunde mehr, und nachdem ich vorsichtig in
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