Die gestohlene Zeit
großen Rübe sprechen, die dem Männchen mitten aus dem Gesicht sprang. Der Mund, der fast keine Oberlippe, dafür aber eine monströs dicke Unterlippe besaß, war misslaunig in die Breite gezogen. Ich rechnete mit dem Schlimmsten.
»Verehrter König Laurin, seit langem hat es ein Menschling wieder gewagt, Euren Rosengarten zu betreten und damit den kostbaren Hain des Herrschers über das Zwergenreich zu entweihen«, quakte einer der Gnome, die mich festhielten, und machte einen kriecherischen Bückling.
Bei der Erwähnung des Namens zuckte ich unwillkürlich zusammen. Laurin?, dachte ich und schüttelte unwillkürlich heftig den Kopf. Ich wollte immer noch nicht akzeptieren, was immer offensichtlicher wurde: Nicht nur die Zwerge, auch ihr mystischer Herrscher waren keine Sage, sondern Wirklichkeit.
Ehe der König jedoch noch einen Blick auf mich werfen konnte, sprang unvermittelt einer der Zwerge, der bislang vor dem Thron gekniet hatte und von den anderen umringt war, auf die Füße und fuhr zu mir herum.
»Sie ist es! Wegen ihr und zwei anderen Menschenwesen habe ich Euer kostbares Kleinod verloren«, schrie er mit schriller Stimme und deutete auf mich.
Weil sie sich alle zum Verwechseln ähnlich sahen beziehungsweise alle gleich hässlich waren, konnte ich nur vermuten, dass es sich bei dem, der zuletzt gesprochen hatte, um das Wesen handelte, das vor Udo, Frank und mir davongerannt war. Eines wusste ich aber mit Sicherheit: Ich saß so tief in der Tinte wie noch nie in meinem Leben.
»Ich habe das Schmuckstück nicht«, rief ich laut, ohne jemand Bestimmten anzusprechen. »Ich habe es zwar gefunden, aber es wurde mir wieder weggenommen!«
Ehe ich weitersprechen konnte, tauchten im Eingang zur Felsenhöhle die beiden Zwerge auf, die vorhin nach oben geeilt waren. Sie trugen zerknirschte Mienen zur Schau, und ein besonders hässlicher Geselle mit mehreren dicken Narben, die ihm wie Peitschenhiebe quer übers Gesicht liefen, trat vor den König hin.
»Wir haben überall gesucht, konnten den Ring aber nirgends entdecken, Majestät. Er scheint tatsächlich fort zu sein!«
»Sage ich doch«, brüllte ich. »Ein Schüler aus meiner Reisegruppe hat ihn sich unter den Nagel gerissen! Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun!«
Doch niemand hörte auf mich. Alle Blicke waren auf den Herrscher gerichtet, der sich gerade in einen Wutanfall hineinsteigerte. Er brüllte unverständliche Worte, die schmerzhaft in meinen Ohren gellten und sich direkt in mein Gehirn zu bohren schienen. Dabei warf er seinen Silberbecher quer durch den Saal, so dass der Wein, der sich noch darin befunden hatte, nur so spritzte.
Mit aufgerissenen Augen beobachteten die Zwerge den Ausbruch, und auch mir wurde angst und bange. Bestimmt würde der König mich nun töten. Wenn ich Glück hatte, ohne mich vorher noch zu zerstückeln. Doch er hatte offenbar andere Pläne, denn sein Blick fiel auf den Zwerg, der mich des Diebstahls bezichtigt hatte und immer noch zwischen mir und dem Thron stand.
»Das alles ist deine Schuld«, zischte der schreckliche Herrscher, und seine Augen glühten vor Hass.
»Tötet ihn«, befahl er kurz angebunden.
»Nein, Majestät! Lasst Gnade walten!«, quiekte der Beschuldigte, doch schon griffen ihn je zwei Zwerge links und rechts unter den Armen und schleiften den Jammernden in eine dunkle Ecke des steinernen Saals. Sekunden später ertönte ein hohes, pfeifendes Zischen, als würde etwas Scharfes, Schweres durch die Luft sausen, und die Schreie des Unglücklichen verstummten abrupt. Gleich darauf gab es einen dumpfen Laut, als fiele ein reifer Kürbis auf die Erde. Ich blickte mich reflexartig um und sah tatsächlich etwas Rundes in die Ecke rollen. Es war der Kopf des Schuldigen. Obwohl die Höhle nur notdürftig von Pechfackeln erhellt war, konnte ich seine aufgerissenen Augen sehen, die mich noch im Tod vorwurfsvoll anzustarren schienen.
Ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, doch ein schmerzhafter Ruck am Seil um meine Handgelenke brachte mich zur Besinnung. Zwei der königlichen Spießgesellen zerrten mich grob vorwärts, bis ich nur wenige Schritte vor dem Thron zum Stehen kam. Dann erst nahmen sie mir die Fesseln ab.
»Sie hat Euren Garten betreten und einen der goldenen Fäden zerrissen, Herr«, sagte der eine.
»Doch seht Euch den Menschling genau an, Majestät«, wisperte der andere.
Nun erhob sich Getuschel und Gemurmel unter dem Zwergenvolk.
Laurin schenkte seinem Gefolge keinerlei
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