Die gestohlene Zeit
Beachtung, sondern starrte mich mit seinen kleinen Schweinsäuglein unverwandt an. Mir kam ein weiterer schrecklicher Gedanke. Was, wenn meine freche Behauptung, ich wäre diejenige, der ich offenbar ähnlich sah, ein großer Fehler gewesen war? Sah ich vielleicht einer Frau ähnlich, die Laurin irgendwann einmal beleidigt hatte? Vielleicht hatte er sich einmal in die Bergwelt begeben und war einer Wanderin begegnet, die über den Zwergenkönig gelacht und sich über seine Hässlichkeit lustig gemacht hatte? Und der rachsüchtige Gnom hatte nur darauf gewartet, diese Person noch einmal in die Finger zu bekommen?
»Emma, erst denken, dann reden«, hörte ich im Geiste Caros Stimme. Oft genug hatte sie mich ermahnt, wenn ich meine Klappe mal wieder nicht halten konnte. Die Sehnsucht nach meiner besten Freundin durchzuckte mich, und ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu weinen. Würde ich Caro jemals wiedersehen? Inzwischen glaubte ich kaum mehr daran. Die Blicke des Herrschers verhießen nichts Gutes.
Schon sah ich ihn von seinem Thron klettern. Auf seinen kurzen Beinen lief er auf mich zu wie eine riesige Spinne. Ich blickte starr zu Boden, weil ich seinen abscheulichen Anblick aus der Nähe noch weniger ertrug. Außerdem wollte ich gar nicht sehen, wie es hinter seiner zerfurchten Stirn arbeitete und er sich die schlimmsten Foltermethoden für mich ausdachte. Sicher würde er mir gleich genüsslich ausmalen, dass seine Strafe für das Betreten des Rosengartens noch viel schlimmer aussähe als das profane Abhacken einer Hand oder eines Fußes …
Mir wurde übel. Nicht nur wegen der grausamen Bilder von blutenden Armstümpfen oder rollenden Köpfen, sondern auch, weil der Geruch des Zwergenkönigs aus der Nähe mir das Frühstück von heute Morgen beinahe wieder hochkommen ließ. Aber vielleicht würde eine gnädige Ohnmacht mich davor bewahren, meinen eigenen Tod bewusst zu erleben …
»Similde!«, flötete Laurin da unvermittelt. Seine Stimme klang, als hätte er soeben seinen heißgeliebten Goldring wiedergefunden. Verwirrt sah ich hoch. Der Name kam mir vage bekannt vor, doch ich wusste nicht mehr, woher. Außerdem: Wen meinte er damit? Verstohlen blickte ich mich um, doch alle Blicke waren auf Laurin gerichtet. Der jedoch schien nur Augen für mich zu haben, denn er musterte mich entzückt und begann, mich mit kleinen Trippelschritten zu umkreisen, ähnlich einem Künstler, der nach jahrelanger Arbeit endlich seine Skulptur vollendet hat. Ich wollte ihn gerade anfahren, was das Theater sollte, da fuhr er fort: »Du bist zurückgekommen!«
Sein breites Gesicht schien sich plötzlich waagrecht in zwei Hälften zu teilen. Es war ein Lächeln, das leider nicht dazu führte, den Zwerg sympathisch oder attraktiver zu machen – im Gegenteil. Der Blick auf seine gelben Zähne, durchsetzt mit schwarzen Stümpfen, ließ mich schaudern. Kein Wunder, dass ihm alle Frauen davonrannten, dachte ich – und plötzlich klickte es in meinem Gedächtnis, und jetzt wusste ich, warum mir der Namen Similde so vertraut erschienen war: So hatte das schöne Mädchen aus der Legende geheißen, das Laurin geraubt hatte und zur Heirat zwingen wollte. Doch dann war sie ihm entkommen.
Aber wieso redete er mich nun mit ihrem Namen an? Er musste doch wissen, wie lange die Sache mit seiner geplatzten Hochzeit her war. Bestimmt alterten selbst Zwerge über die Jahrzehnte – oder waren es Jahrhunderte? Jedenfalls müsste ihm klar sein, dass Similde inzwischen wie eine weibliche Ausgabe von Methusalem aussehen musste, wenn sie überhaupt noch leben würde. Und das war mehr als unwahrscheinlich. Zwergenkönig – Zwergenhirn, schoss es mir durch den Kopf, und ich beschloss, Laurin aufzuklären – trotz möglicher negativer Konsequenzen. »Ich bin nicht Similde. Ich heiße Emma, und ich möchte jetzt bitte gehen«, brachte ich mit zitternder Stimme heraus.
Gleich darauf ärgerte ich mich, wie piepsig ich klang. Eigentlich war es an dem verflixten Laurin, kleinlaut zu sein, weil seine Handlanger einfach ein Mädchen hier herunterschleppten, nicht ohne sie vorher noch mit allen möglichen Drohungen einzuschüchtern! Ich räusperte mich energisch und holte tief Luft. »Jetzt passen Sie mal auf. Ich bin nicht die, für die Sie mich halten. Ich bin Studentin und mit ein paar Schülern auf einem Ausflug. Die Lehrer machen sich bestimmt schon Sorgen um mich. Also vergessen wir die Sache mit der Entführung, und Sie lassen mich jetzt
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