Die gestohlene Zeit
ihn zurück!«, keifte die Stimme, von der schwer zu sagen war, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte. Sie klang seltsam alterslos, nicht hoch, aber auch nicht tief. Langsam stach mir das Fackellicht nicht mehr in die Augen wie ein Fünfhundert-Watt-Scheinwerfer, dennoch wagte ich noch nicht, mich umzusehen. Hören konnte ich allerdings ausgezeichnet, und was ich vernahm, ließ mir das Blut gerinnen.
»Wer sich an meinen Schätzen bedient, wird mit dem Tode bestraft!«, wütete der Sprecher. Ich war nun sicher, dass es sich um den König der Zwerge handelte.
Mist, dachte ich, garantiert war von dem Ring die Rede, den ich im Gras gefunden und den Udo mir grob entwendet hatte. Ich verfluchte ihn nun doppelt für seine idiotische Gier. Wenn der Zwerg, der vor Udo, Frank und mir davongelaufen war, mich wiedererkannte, saß ich ziemlich in der Patsche. Ganz abgesehen davon, dass ein schlechtgelauntes Zwergenoberhaupt wahrscheinlich noch weniger Gnade walten ließ als ein gutgelauntes, musste ich fürchten, für den Fund des Rings grausam bestraft zu werden. Ich war schließlich die Einzige unseres Trios, die von den Zwergen erwischt worden war. Ob mein Argument, der Schmuck wäre mir gewaltsam abgenommen worden, etwas nützte, war fraglich. Aber ich musste es wenigstens versuchen. In dem Moment vernahm ich trappelnde Schritte.
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Schemenhaft konnte ich zwei Zwerge ausmachen, die an mir vorbeiliefen und in dem düsteren Tunnel nach oben verschwanden. Ich wünschte, ich wäre an ihrer Stelle. Doch meine Bewacher hielten mich immer noch fest, und ich wandte den Kopf, um mich umzusehen. Die Felsenhöhle, in der ich stand, war riesig. Von den nasskalten Wänden tropfte es beständig, als weinte der Fels trübkalte Tränen, und modriger Geruch nach lichtloser Einsamkeit stieg mir in die Nase.
Da bemerkte ich ein Funkeln. Nachdem sich meine Augen weiter an das Fackellicht gewöhnt hatten, konnte ich erkennen, dass es von Dutzenden, wenn nicht Hunderten Gold- und Silberbechern stammte, die achtlos durcheinandergeworfen zu mehreren Haufen gestapelt waren. Dazwischen lagen funkelnde Edelsteine, manche so groß wie Hühnereier. Hier musste ein unschätzbares Vermögen herumliegen.
Nun konnte ich auch etwa zwei Dutzend Zwerge ausmachen, die an einer langen Tafel saßen, auf der ebenfalls goldene Teller sowie silberne Platten mit allerlei Fleischstücken aufgereiht waren. Dazwischen liefen zu meiner Verblüffung ein paar Hühner umher. Wahrscheinlich dienten sie als Eierlieferanten – oder sie fanden sich demnächst gerupft und gebraten
auf
statt
unter
dem Tisch wieder.
Mein Blick glitt zum Kopfende des Tisches, doch gleich darauf wünschte ich mir die Dunkelheit des Stollens zurück. Dort stand ein Thron aus bleichen Knochen, von denen ich hoffte, sie stammten nur von Tieren. Darauf kauerte das abstoßendste Wesen, das ich je gesehen hatte. Dabei hatte ich gedacht, der Anblick der Zwerge wäre nicht mehr zu toppen.
Irrtum. Was da ein paar Meter von mir entfernt hockte, erinnerte an eine Kreuzung zwischen einer Kröte und einem Troll. Gekleidet war das Wesen in Kniehosen aus dunkelbraunem Samt und einer Art Uniformjacke aus demselben Material, nur in Dunkelblau. Die modische Totalkatastrophe bildeten gelbliche Kniestrümpfe, die seine dünnen, krummen Beine umhüllten und in ziemlich albernen Schnallenschuhen endeten. Die Füße schienen zu klein und fast lächerlich im Verhältnis zu dem riesigen Kopf, der halslos auf breiten, gekrümmten Schultern saß. Der Herrscher über die Zwerge hatte eine Halbglatze, doch die wenigen fahlen Strähnen, die ab der Mitte des Haarkranzes wuchsen, fielen ihm bis auf die Schultern und sahen aus, als wären sie noch nie mit Wasser oder gar Shampoo in Berührung gekommen. Wie der ganze Rest der hässlichen Gestalt übrigens auch. Der schmutzig weiße Spitzenkragen war unter dem fleischigen Kinn kaum sichtbar. Das Gesicht über dem Kragen glich der Schale einer Walnuss. Die Zeit im unterirdischen Felsenreich hatten scharfe Linien in die ledrige Haut gegerbt, unter denen die tiefliegenden, kleinen Augen unter struppigen, schmutzig grauen Brauen beinahe verschwanden. Die spitzen Ohren waren unverhältnismäßig groß und standen grotesk vom Kopf ab. Sogar aus der Entfernung konnte ich die borstigen Haare sehen, die aus ihnen herauswuchsen. Ähnelten die Nasen der anderen Zwerge unförmigen Kartoffeln, so konnte man bei diesem Exemplar schon eher von einer
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