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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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mit diesem abgrundtief verabscheuungswürdigen Wesen vor meinem inneren Auge auf und drohten, mich in blinde Panik zu stürzen. Allein bei dem Gedanken an diese grobschlächtigen, schmutzigen Hände wäre ich am liebsten losgerannt und hätte nicht eher angehalten, bis ich die österreichische Grenze hinter mir gelassen und die Stadt erreicht hätte, in der sich mein Internatszimmer mit Caro darin befand.
    Ich schlug die Hände vors Gesicht. Ich wollte nicht als Laurins Sklavin enden, ich wollte mein altes Leben wiederhaben!
    »Hör zu, es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, hier wegzukommen! Wie wäre es durch diesen Schornstein da?«, fragte ich und wies auf den Schacht über dem Herd. Offenbar diente er dazu, den Qualm und Dampf vom Herd nach oben zu leiten. Folglich musste er ja ins Freie führen. Jonathan senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen. »Als hätte ich nicht schon alles versucht«, sagte er mit gepresster Stimme. »Aber der Rauchfang ist viel zu schmal. Und würden die Zwerge feststellen, dass wir dort hineingeklettert sind, um zu fliehen, sie würden ohne Zögern ein mächtiges Feuer im Herd entfachen und uns ausräuchern, glaube mir!«
    Verzagt huschte mein Blick durch die düstere Steinkammer. Nirgendwo war ein Spalt im Fels, es gab nur die Tür, und ohne es auszuprobieren wusste ich, dass davor mindestens zwei Wächter standen. »Und die Höhle, in der du schläfst, was ist damit?«, fragte ich hoffnungsvoll. Jonathan lachte bitter auf. »Mein
Schlafgemach
ist hier«, sagte er und wies auf die Weidenkörbe, hinter denen der Zwerg ihn vorhin hervorgejagt hatte. Ich starrte ihn entgeistert an. Die Zwerge hielten ihn ja schlimmer als einen räudigen Hofhund!
    Scheinbar konnte man mir meine Gedanken von der Stirn ablesen, denn Jonathan blickte mich ernst an. »Ich bin froh, dass ich noch lebe, Emma. Eigentlich wollten die Zwerge mich töten, als sie mich in Laurins Rosengarten entdeckten.«
    »Und dir vorher noch die linke Hand und den rechten Fuß abhacken – oder war es bei dir umgekehrt?«, ätzte ich und dachte an das irre Lachen, mit dem eine der Missgeburten diese Drohung mir gegenüber ausgesprochen hatte.
    »Woher weißt du das?«, fragte Jonathan verblüfft, ehe er begriff. »Dann hat Laurin dich gar nicht aus der Menschenwelt entführt, sondern du bist in seinen Garten eingedrungen!«
    Ich funkelte ihn an. »Was heißt hier ›eingedrungen‹? Ich bin nun wirklich nicht freiwillig im Gebirge geblieben!« Auf seinen fragenden Blick hin erzählte ich ihm wohl oder übel die ganze Geschichte, allerdings in Kurzform. Angefangen bei dem Ring, den ich gefunden und den Udo mir weggenommen hatte, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich hoffnungslos in den Bergen verirrt und plötzlich das Leuchten der Rosen wahrgenommen hatte.
    »Ich wollte mir den Garten nur mal ansehen, aber dann bin ich über diese blöde goldene Schnur gestolpert. Ich hatte nicht mal Zeit nachzudenken, da war ich schon umzingelt«, rechtfertigte ich mich. Und setzte hinzu: »Bei dir wird es ja wohl ähnlich gewesen sein!«
    Jonathan schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich habe die Goldschnur zerrissen, als ich aus dem Rosengarten
hinaus
wollte.« Ich blickte ihn verständnislos an. Er seufzte, dann aber berichtete etwas widerwillig: »Ich hatte vor, über die Berge nach Italien zu gehen. Jedoch hatte ich mich an jenem Tag verlaufen, und so wurde es dunkel, ehe ich an mein Etappenziel gelangen konnte. Ich war gezwungen, mir eine windgeschützte Stelle für mein Nachtlager zu suchen. Und als ich bei Sonnenaufgang erwachte, lag ich inmitten eines prächtigen Rosengartens. Doch ich wusste um die Sage vom Zwergenkönig Laurin und dass er jeden grausam strafte, der seinen Garten zu betreten wagte. Also wollte ich fliehen, sah aber die Goldfäden nicht.«
    Ich konnte mir vorstellen, wie es dann weitergegangen war. »Die Zwerge schleiften mich zu ihrem König. Zu meinem Glück hatte er an diesem Tag famose Laune, und außerdem wünschte er sich einen Koch. Also bestimmte Laurin mich für diese Aufgabe, und ich fügte mich in dieses Schicksal. Was hätte ich auch tun sollen? Alles andere hätte den sicheren Tod bedeutet«, beendete Jonathan seinen Bericht.
    Unwillkürlich hatte ich erneut den Kopf des Zwerges, der in die Ecke rollte, vor Augen. Daher nickte ich und überlegte, ob Jonathan wohl einer dieser Extrem-Bergsteiger war, die immer alleine loszogen und für die eine Alpenüberquerung in zwei Tagen zu ihren leichtesten

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