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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Lächeln, das ihm jedoch gründlich misslang. »Sind die immer so drauf?«, wollte ich wissen.
    Da er mich verständnislos ansah, wiederholte ich: »Ob die Zwerge dich schon öfter verprügelt haben, meine ich?« Jonathan winkte ab. Für mich war das Antwort genug. Eine dumpfe Resignation drohte mich zu überwältigen, und ich überlegte kurz, mich einfach auf dem Boden zusammenzurollen und zu hoffen, ich würde vor der Hochzeit sterben. Da glaubte ich Caros Stimme nah an meinem Ohr zu hören: »Gib nicht auf, Emmi! Kämpfe um deine Freiheit, und schlage die Zwerge mit Köpfchen!«
    Hastig blickte ich mich um, aber natürlich war weit und breit keine Caro zu sehen, nur Jonathan und ich befanden uns in der Küche, tief in den Eingeweiden des steinernen Berges. Er versuchte, sich hochzustemmen, sank jedoch mit einem Stöhnen zurück und hielt sich die Hände vor den Solarplexus, wo ihn die Zwergenfaust getroffen hatte. Seine Wange war gerötet. Bestimmt trug er den einen oder anderen blauen Fleck davon. Ich wollte ihm auf die Beine helfen, doch er schüttelte mit einem verzerrten Lächeln den Kopf. »Bitte gönne mir noch einen Augenblick«, ächzte er, und ich konnte seiner Stimme anhören, welche Schmerzen er haben musste. Ich hätte ihn gerne getröstet, so wie er mich vorhin, aber ich wusste nicht recht, wie, wir kannten uns ja gar nicht. Also setzte ich mich still neben ihn. Das hatte Caro auch manchmal gemacht, wenn es mir aus irgendeinem Grund einfach nur dreckig ging. In Erinnerung an meine beste Freundin begann ich leise, ein Lied zu summen, das sie mir oft vorgesungen hatte.
     
    Au clair de la lune, mon ami Pierrot
    Prête-moi ta plume, pour écrire un mot …
     
    Als ich zur Seite blickte, musterte Jonathan mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. Ich verstummte verlegen. »Es ist wunderschön«, sagte er leise. »Was ist das für ein Lied?«
    »Ach, ein altes, französisches Volkslied. Das hat meine beste Freundin mir immer vorgesungen, wenn ich Katzenjammer hatte.«
    »Warum hat nicht deine Mutter für dich gesungen?«, wollte Jonathan wissen.
    »Sie ist tot«, sagte ich kurz angebunden. »Schon lange.«
    Jonathan nickte nur schweigend, dann zog er sich an der Einfassung des steinernen Herdes hoch. Langsam richtete er sich auf und atmete tief durch. Offenbar ging es ihm wieder besser. Schweigend machte er sich daran, das tote Huhn auszunehmen. Ich wollte lieber nicht hinsehen, daher blieb ich sitzen und kam mir plötzlich überflüssig vor. Eine merkwürdige Verlegenheit hatte sich zwischen uns breitgemacht, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, um das Schweigen zwischen uns zu brechen. Wir kannten uns ert kurz, und ich wurde aus Jonathan nicht recht schlau. Einerseits wirkte er verschlossen und manchmal abweisend, dann wieder konnte er sehr nett sein. Vielleicht sollte ich mich von ihm fernhalten und einen Fluchtplan entwickeln. Alleine. Trotzdem widerstrebte mir der Gedanke, ihn hier zurückzulassen. Ich dachte an sein Lächeln, mit dem er mir das Rosenwasser-Tuch überreicht hatte … Energisch schüttelte ich den Kopf, um die wirren Gedanken loszuwerden. Ich hatte wirklich andere Probleme.
    Nachdem er mit dem Huhn fertig war, wuchtete Jonathan den großen Kessel vom Herd und füllte ihn mit Wasser aus dem Fass. Dann warf er achtlos das gerupfte Huhn hinein. Offenbar wollte er Brühe herstellen. Als er aber den Kessel wieder übers Feuer hängen wollte, hatte ich einen Geistesblitz und rief: »Stopp, da fehlen doch noch ganz viele Zutaten!«
    Überrascht setzte er den schweren Eisentopf ab. »Ich bereite das Mahl stets auf diese Weise zu!«, rechtfertigte er sich. Zwar hätte ich den fiesen Zwergen da draußen auch am liebsten die Suppe im wahrsten Sinn des Wortes versalzen, aber je schmackhafter das Essen, desto mehr würde vielleicht der Met fließen und desto redseliger würden vielleicht die Zwerge werden. Und das könnte zu unserem Vorteil sein …
    Eins nach dem anderen, befahl ich mir selbst und konzentrierte mich wieder auf Jonathan. »Gibt es hier kein Gemüse oder so?«, fragte ich streng. Er hob resigniert die Schultern. »Ab und zu schleppen sie ein paar Rüben und ähnliche Dinge an. Aber ich weiß damit nicht viel anzufangen. Das Essen zu Hause hat immer unsere Köchin zubereitet.«
    Aha, dachte ich, also ist er so ein verwöhntes Bürschchen aus reichem Haus. Wie Udo von Hassell. Meine Sympathie für Jonathan ließ etwas nach, und ich raunzte nur knapp:

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