Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
Vom Netzwerk:
Übungen zählte. Etwas in seiner Miene hielt mich aber davon ab, ihn nach dem Grund für seine Bergtour zu fragen.
    Wenigstens schien er kochen zu können. In meinem Alter kannte ich sonst keinen Jungen, der sich freiwillig in eine Küche gestellt hätte, außer um dort eine Bierflasche mit den Zähnen zu öffnen. Ende der Achtzigerjahre hatten Alice Schwarzers Emanzipationsbemühungen zumindest in dieser Hinsicht völlig versagt. Udo von Hassell zum Beispiel würde garantiert selbst einen Topf Wasser anbrennen lassen.
    Als ich Jonathan nach seinen Künsten am Herd fragte, verzog er das Gesicht. »Für das, was die Zwerge unter lukullischen Genüssen verstehen, mag es genügen«, sagte er, und ich wusste nicht, ob seine hochgestochene Ausdrucksweise diesmal Spaß oder Ernst war. Ich kam nicht mehr dazu, ihn zu fragen, denn die Tür zur Küche flog auf, und drei Zwerge stürmten herein.
    »Heda, Faulpelz! Laurins Volk hat Hunger!«, schrie der eine.
    Ich dachte flüchtig an den reichlich gedeckte Tafel, die ich eben noch gesehen hatte, aber bevor ich fragen konnte, ob die Gnome etwa all die gebratenen Tiere wie eine Boa Constrictor im Ganzen verschlangen, schnappte sich der hässlichste Zwerg eine der Hennen, die das Pech hatte, in diesem Moment nichtsahnend durch die offene Tür in die Küche zu spazieren. Seine rechte Klaue um den Hals des Tieres gekrallt, rupfte er ihm mit der linken beiläufig mehrere Federn aus, während er Jonathan befahl: »Ein neues Fass Met ist geöffnet, also sieh zu, dass du uns etwas Herzhaftes dazu auftischst!«
    Mit einer kurzen Bewegung drehte er dem Huhn den Hals um und warf es Jonathan vor die Füße. Weil der eine Sekunde zu lange zögerte, versetzte ihm der Zwerg einen derben Schlag vor die Brust, der Jonathan taumeln ließ.
    »Das Wildschwein war zäh. Noch einmal so ein Fraß, und ich werde dich Mores lehren«, übertönte ihn sein Kumpel und versuchte, dem jungen Mann eine Ohrfeige zu verpassen. Diesmal war Jonathan jedoch vorbereitet und wich mit einer eleganten, fast tänzerisch anmutenden Bewegung aus. Mit einem wütenden Aufheulen holte der Zwerg zu einem Fußtritt aus, der jedoch ins Leere ging, weil Jonathan leichtfüßig zur Seite sprang. Diese Wendigkeit schien den Ersten erst recht aufzustacheln, und weil Jonathan eine Sekunde nicht aufpasste, landete die knöcherne Gnomenfaust mit einem kurzen, aber unerbittlichen Aufwärtshaken in seinem Magen. Jonathan klappte zusammen und rang nach Luft. Gleich darauf traf ihn ein weiterer Faustschlag am Jochbein.
    Das reichte. Beim Hereinkommen vorhin hatte ich links von der Tür ein großes Holzfass voller Wasser erspäht, das wahrscheinlich zum Kochen sowie für den Abwasch diente. Eine hölzerne Kelle baumelte am Rand. Mit einem Sprung war ich bei dem Fass und tauchte den Schöpfer ein. Hatte ich nicht vorhin erst gehört, wie sehr die Zwerge Wasser hassten? Gerade als der Wortführer zu einem Tritt in Richtung Jonathans Schienbein ausholte, schwang ich die Kelle. Ein Schwall Wasser ergoss sich nicht nur über den ersten Zwerg, sondern erwischte auch seinen kleinen Freund, der die Backpfeife austeilen wollte. Beide jaulten auf. Das nenne ich zwei Zwerge mit einer Klappe geschlagen, dachte ich zufrieden. Ein paar Spritzer hatten auch den Dritten im Bunde erwischt. »Wieso, ich habe doch überhaupt nichts getan«, kreischte der empört und klang, als hätte ich ihn statt mit den paar Wassertropfen mit Säure übergossen.
    Ich ignorierte das Geschrei und tunkte die Kelle erneut ein. »Ihr kriegt euer Essen. Aber wenn ihr einen von uns noch einmal anrührt, werde ich Laurin erzählen, was ihr oder eure kleinen Freunde mir an der Oberwelt angedroht haben. Es wird eurem König gar nicht gefallen, was ihr seiner Braut antun wolltet …«
    Die Zwerge wurden sichtlich unruhig und tauschten nervöse Blicke. Dann hob der eine besänftigend die Hände und entfernte sich zwei Schritte von Jonathan. Ich interpretierte das als Kapitulation, setzte aber vorsichtshalber noch eins drauf: »Ihr seid gewarnt! Und jetzt verzieht euch, sonst …« Drohend hob ich den tropfenden Schöpflöffel.
    Das kleinwüchsige Trio trat hastig den Rückzug an, nicht ohne noch die Fäuste gegen mich zu schütteln, aber ich musste die Kelle nur kurz in ihre Richtung schwenken, und schon knallte die Tür von außen zu.
    Ich warf den Schöpfer achtlos beiseite und drehte mich zu Jonathan um. »Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt.
    Er nickte und versuchte ein

Weitere Kostenlose Bücher