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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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»Wo?« Schweigend führte er mich an die rechte Seite der Küche. Dort war ein Loch von etwa einem Meter Durchmesser in die Wand gehauen und ging gerade so tief in den Fels hinein, wie mein ausgestreckter Arm reichte. In seinem Inneren war es im Gegensatz zu der dampfig-heißen Küche angenehm kühl und feucht. Im trüben Licht der Talglampen sah ich auf dem Boden einen Haufen verschrumpelte Möhren, ein Dutzend Kartoffeln und einige welke Lauchstangen liegen.
    »Na also!«, rief ich zufrieden und nahm das erdverkrustete Gemüse aus seinem Versteck. Wahrscheinlich zogen die Gnome ab und zu los und klauten die Sachen aus den Gärten der wenigen Bergbauernhöfe auf dem Weg ins Tal. Jonathan musterte mich kritisch. »Du willst diesen Kreaturen tatsächlich etwas Gutes vorsetzen?«, fragte er.
    »Das gehört zu meinem Plan«, meinte ich nur und drückte ihm energisch die Mohrrüben in die Hand.
     
    Nur wenig später stieg aus dem Kessel ein köstlicher Duft auf. Jonathan hatte mir, zwar widerwillig, aber wenigstens ohne weiteren Protest, auch noch ein Bündel vertrocknete Kräuter gezeigt, die von den Zwergen anscheinend gesammelt und in eine Ecke der Küche geworfen worden waren. Neben ein paar Blättern welkem Salbei fanden sich noch ein wenig wilder Majoran und etwas Liebstöckel. In meiner Ehre als Hobby-Köchin angestachelt, hatte ich aus den Zutaten eine aromatische Hühnersuppe gezaubert.
    Den vier Zwergen, die nach einiger Zeit in die Küche marschierten, um den Kessel in den Speisesaal zu tragen, fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ihre unförmigen Kartoffelnasen bebten, als sie gierig den Duft der Brühe erschnüffelten. »Bringt das eurem König«, befahl ich möglichst autoritär, und statt mich zu treten oder Jonathan erneut zu ohrfeigen, packte das Quartett folgsam den Suppenkessel und schleppte ihn hinaus.
    Ich wartete einige Minuten, dann spähte ich vorsichtig durch den Spalt der Tür zum großen Festsaal. An seinem anderen Ende befand sich der Gang, der in die Oberwelt führte – die einzige Fluchtmöglichkeit. Ich hoffte, den Saal ungesehen durchqueren und fliehen zu können, während die Zwerge mit ihrem Essen beschäftigt waren. Doch Laurin hatte sowohl neben der Küchentür als auch am anderen Ende des Raumes, wo der Gang begann, Wachen aufgestellt.
    Die übrigen Zwerge hingen über dem Kessel und schaufelten sich gierig mit silbernen Löffeln die Suppe direkt aus dem Topf in den Mund, neidisch beäugt von den Wächtern. Nur Laurin hielt eine große, goldene Schale in Händen und hockte auf seinem Thron. Er hatte keinen Blick für seine Untertanen, denn sein Gesicht war fast vollständig in dem Gefäß verschwunden. Ein lautes Schmatzen besagte, dass auch er Gefallen an meinem Essen fand. Nachdem er die Schüssel sogar noch ausgeleckt hatte, wobei ich beim Anblick seiner langen, fleischig-violetten Zunge vor Grauen eine Gänsehaut bekam, warf er achtlos ein paar Hühnerknochen aus der Schale hinter sich, dann schlug er mit der Faust auf die Armlehne seines knöchernen Throns. Einige kleine Gebeine splitterten dabei ab und flogen durch die Gegend.
    »Ein vorzügliches Essen verlangt nach mehr Met! Öffnet ein weiteres Fass«, befahl er. Lauter Jubel seiner Untertanen ertönte, und zwei Zwerge rollten eilends ein riesiges Holzfass herbei. Einer schlug mühelos eine Art primitiven Zapfhahn ein, und schon drängten sich alle darum, dem König den ersten Becher zu reichen. Er trank seinen Untertanen zu, die sich nun auch ihre Krüge füllten – sogar die Wachen. Schnell war ein regelrechtes Gelage im Gang.
    Zufrieden zog ich mich wieder in die Küche zurück. »Nicht mehr lange, und die sind total blau«, erstattete ich Jonathan Bericht. »Dann versuchen wir, einen der Zwerge in die Küche zu locken. Betrunkene sind redselig, und wir erfahren vielleicht, ob es eine Art Geheimgang an die Oberfläche gibt. Oder wir haben Glück, und alle sind irgendwann so dicht, dass sie einschlafen und überhaupt nicht merken, wenn wir uns an ihnen vorbeischleichen.«
    Ich war geradezu euphorisch. Meine Flucht schien in greifbare Nähe gerückt zu sein.
    Jonathan allerdings sah nicht so aus, als ob er sich freute. »Was ist?«, fragte ich gereizt. Ich riss mir hier schier ein Bein aus, damit wir abhauen konnten, und alles, was er tat, war, einen Gesichtsausdruck Marke Klugscheißer aufzusetzen? »Dein Plan in Ehren, Emma«, fing er an. »Jedoch solltest du die Zwerge nicht unterschätzen. Sie können mehrere

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