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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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Emma. Und ich dachte mir, du könntest meine Hilfe vielleicht noch brauchen.«
    Jetzt blickte er mir direkt ins Gesicht. Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Auf einmal schämte ich mich, Jonathan für ein verwöhntes, feiges Jüngelchen gehalten zu haben. »Oh Mann … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist … echt cool von dir, ich meine …«, stotterte ich.
    »Schon gut«, fiel er mir etwas schroff ins Wort. »Nun lass uns überlegen, wie wir die Nacht zur Flucht nutzen können.« Doch so sehr wir uns auch die Köpfe zerbrachen und diskutierten, es blieb dabei: Der einzige Ausweg aus dem Reich der Zwerge ging direkt durch die große Halle, wo das ganze Volk samt ihrem König versammelt war. Wäre Jonathan nicht gewesen, hätte ich mir aus Verzweiflung vielleicht tatsächlich mit einem der Küchenmesser die Pulsadern aufgeschnitten. Obwohl mir nach stundenlanger Grübelei, in der wir Pläne geschmiedet und wieder verworfen hatten, klar war, dass er mir nicht helfen konnte, tröstete mich seine Anwesenheit.
    »Vielleicht gelingt es mir ja morgen, Laurin zur Zeremonie in den Rosengarten zu locken«, hoffte ich schließlich. »Dann könntest du die Zwerge ablenken, und wir versuchen zu fliehen. Am besten nehmen wir uns aus der Küche ein paar Messer mit – für alle Fälle.«
    Jonathan nickte, aber ich sah Traurigkeit in seinen Augen. Ich glaubte ja selbst nicht an meinen Plan. Weil es jedoch die einzige Chance war, die wir hatten, klammerte ich mich an die Hoffnung, der nächste Morgen würde uns vielleicht Glück bringen. Schließlich war ich so erschöpft, dass ich im Sitzen einnickte, den Rücken gegen die rauhe Felswand gelehnt. Nur verschwommen nahm ich wahr, wie mir behutsam etwas Weiches unter den Kopf geschoben wurde.
    Ohne die Augen zu öffnen, murmelte ich: »Du hast mir vorhin nicht die ganze Wahrheit gesagt, stimmt’s? Warum hast du die Rätselfrage nicht beantwortet?«
    Sekundenlang hörte ich nur das Knistern des Feuers im Herd, und die sanften Wogen des Schlafes trugen mich bereits davon, da hörte ich Jonathans leise Stimme: »Weil ich dich beschützen will.« Eine sanfte Hand, zu weich und zu zärtlich für die eines Zwerges, strich mir eine Locke aus der Stirn, aber ich vermochte nicht zu sagen, ob es noch Wirklichkeit oder schon ein Traum war.
     
    Mir kam es vor, als wäre es noch mitten in der Nacht, da ertönten polternde Schritte, und erneut wurde die Tür aufgerissen. Noch im Halbschlaf fuhr ich erschrocken hoch. Zwei Zwergenfrauen in schmutzigen Kitteln kamen herein. Die eine hatte einen Strauß violetter Blumen in der Hand. Eine vage Erinnerung an Caro blitzte in meinem Kopf auf, aber bevor ich den Gedanken zu fassen bekam, war er schon wieder fort, wie eine der vielen kleinen Spinnen in der Höhle, die flink in die Felsspalten huschten, sobald man ihrer ansichtig wurde. Achtlos warf die Zwergin die Blumen auf den Küchentisch. »Dein Hochzeitsgebinde«, sagte sie hämisch grinsend und musterte mich voller Abneigung.
    Die zweite hielt die Arme starr vor ihrem plumpen Körper ausgestreckt. Vor sich her trug sie ein weiß-silbrig durchwirktes Gespinst, das aussah, als sei es aus feinsten Spinnweben gemacht, auf denen der Morgentau funkelte. Es erschien direkt surreal, etwas so Schönes in den groben Händen der hässlichen Zwergin zu sehen. Dann schüttelte sie das hauchzarte Etwas aus, und ich sah, dass es sich um ein Kleid handelte.
    »Anziehen!«, befahl mir die Zwergenfrau knapp und hielt es mir auffordernd hin. Es war mein Hochzeitskleid für die Zeremonie mit dem grauenhaften Laurin! Schlagartig verlor das Gewand seinen Zauber. Ich trat einen Schritt zurück und kniff die Lippen zusammen. »Nein!«, gab ich ebenso kurz angebunden zurück. Statt einer Antwort packte mich die zweite Zwergin mit der einen Hand grob am Arm. Mit der anderen riss sie mir ohne zu zögern mein Wanderhemd auf, so dass die Knöpfe durch die Küche flogen. Ich schrie auf – weniger vor Schmerz als aus Schock über ihre rohe Brutalität.
    »Lasst sie los«, hörte ich da auf einmal Jonathan rufen. Er packte meine Peinigerin und versuchte, sie von mir wegzuziehen. Das gemeine Geschöpf drehte sich nur kurz um. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da krümmte sich Jonathan bereits keuchend zusammen. Die Zwergin hatte ihm ihre Faust seitlich in die Rippen gerammt. Ich schnappte nach Luft, aber in dem Moment zielte sie auf Jonathans Kinn. Ihre Fingerknöchel sorgten für einen

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