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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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war nur ein Alptraum gewesen. Gleich würde ich im weichen Gras hinter der Jugendherberge aufwachen und …
    »Emma«, hörte ich eine Männerstimme. Sie klang besorgt. Ich lächelte und dachte, wenn ich die Augen aufschlug, würden Spindler und die Schüler des Heinrich-Heine-Gymnasiums vor mir stehen. Vielleicht war Udo ja doch nicht so übel und hatte Hilfe geholt, nachdem ich nicht zur Gruppe zurückgekehrt war. »Alles okay«, murmelte ich und öffnete mit einiger Mühe die Augen.
    Jonathans Gesicht war direkt über meinem, und er wedelte mit einem weißen Stofftuch vor meiner Nase herum. Fackelschein erhellte sein Gesicht.
    Von einer Sekunde auf die nächste wurde ich in die Realität zurückkatapultiert. »Nein«, stöhnte ich und schlug mir die Hände vors Gesicht. Statt im Sonnenlicht lag ich in der finsteren Zwergenhöhle. Und ich würde nie mehr frei sein, sondern bald Laurins Braut. Ein Wimmern drang aus meiner Kehle. Ich dachte an das Geschöpf, das morgen früh auf mich wartete und dessen Gefangene ich bis zu meinem Tod sein würde. Nie wieder bekäme ich den blauen Himmel zu sehen, nie wieder den Vollmond und die Sterne am Himmel. Fortan würde ich in ständiger Finsternis dahinvegetieren, ohne jemals wieder den Duft von frischem Gras zu riechen oder die Winterluft, die den ersten Schnee mitbrachte. Keine Caro würde mir morgens die Bettdecke wegziehen mit den Worten: »He, Prinzessin auf der Schlaftablette, aufwachen!«
    Stattdessen musste ich mir wohl mein Nachtlager mit einem Monster teilen, das ich mir in meinen schlimmsten Vorstellungen nie hätte ausmalen können …
    Voller Panik krümmte ich mich zusammen, und ein trockenes Schluchzen entrang sich meiner Kehle. »Wo ist er, ich will nicht …«, brachte ich stammelnd heraus.
    Da spürte ich Jonathans warme Hand auf meiner Schulter. »Keine Angst, wir sind alleine in der Küche«, beruhigte er mich. »Nun lasse mich dir helfen.« Sanft stützte er mich, und schwankend kam ich zum Stehen. Jonathan hielt mich mit einem festen, sicheren Griff an den Oberarmen fest. Ich schlotterte und sah, wie sich die Bewegung, die meinen Körper schüttelte, über seine Hände auf seine Arme übertrug. Aber vielleicht zitterten wir beide vor dem, was sich am nächsten Morgen hier abspielen würde. Mein Blick traf seinen, und ich sah, dass er um meine schreckliche Angst wusste.
    »Ich kann nicht, Jonathan«, flüsterte ich. »Ich kann Laurin nicht heiraten. Lieber bringe ich mich um!«
    Ich spürte, wie er mich kurz an sich zog und seine Finger sekundenlang meine Oberarme umklammerten, bevor er mich sanft von sich schob. »Nein, Emma, das darfst du nicht!«, sagte er eindringlich. Doch außer Sorge lag noch etwas anderes in seinen Augen, ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Einen Moment versank ich in seinen Augen, und der Schrecken schien zurückzuweichen wie eine Welle bei Ebbe.
    »Ich werde dir beistehen!«, sagte er entschieden. »Vielleicht können wir …«
    In diesem Moment flog die Tür einmal mehr krachend auf. Blitzschnell ließ Jonathan mich los, und ich wirbelte herum. Doch es war nicht der König, der in dem niedrigen Türrahmen stand, sondern zwei seiner Untertanen. Einer hatte eine Art Pergamentrolle in der Hand, die er entfaltete, während der andere salbungsvoll verkündete: »Zeit für das Rätsel!«
    Ich blickte verständnislos von den Zwergen zu Jonathan. Der seufzte und nickte ergeben.
    »Du kennst die Bedingungen. Weißt du des Rätsels Lösung, bist du frei. Bleibt sie dir allerdings verborgen, so musst du Laurin weiter dienen«, sprach der eine Gnom feierlich.
    Wieder nickte Jonathan. »Wartet«, unterbrach er den Zwerg, gerade als dieser ansetzen wollte, das Pergament vorzulesen. »Wenn ich das Rätsel löse, lasst das Mädchen frei. Dann will ich dem König auf ewig dienen und nie wieder nach der Freiheit für mich fragen!«, forderte Jonathan, ohne mich anzusehen.
    Ich hielt die Luft an. Das würde er für mich tun? Eine Welle der Dankbarkeit für diesen seltsamen Jungen durchströmte mich, und ich sah ihn bewundernd an. Auch die beiden buckligen Gestalten waren verstummt, wahrscheinlich hatte es ihnen vor Verblüffung die Sprache verschlagen.
    Doch schon gackerte der eine schrill los, der andere fiel in das Hohngelächter ein. »Er will den Retter spielen!«, quiekte der Erste.
    »Er glaubt, er könne mit dem König einen Handel schließen«, kreischte der Zweite und warf lachend den Kopf zurück. Sofort wurde er aber wieder

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