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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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mit größter Vorsicht aufzuheben und mitzunehmen. Laurin wandte sich zu mir um und schenkte mir etwas, das wahrscheinlich ein sanftes Lächeln sein sollte, mir aber das Herz vor Abscheu gefrieren ließ. »Die Vermählung wird vonstattengehen, gräme dich nicht, mein Liebchen«, flötete er.
    Dann wandte er sich ab und stapfte zur Tür. »Leodebald, Notger! Wo bleibt das Fleisch fürs Festmahl …«, rief er und verschwand nach draußen.
    Ich atmete tief durch. Ich hatte meine Gnadenfrist, aber jetzt musste ich mich erst einmal um Jonathan kümmern. Der hatte in der Zwischenzeit einen Streifen Stoff in das Wasserfass getaucht und kühlte die rote, geschwollene Stelle an seinem Kinn, wo ihn die Faust der Zwergenfrau getroffen hatte. »Geht’s wieder?«, fragte ich besorgt.
    »Nun, es erging mir schon schlechter«, scherzte er kläglich. Ich grinste ihn erleichtert an. »Glaubst du, es war klug, die Zwerginnen gegen dich aufzubringen? Indem du das Kleid zerreißt, wirst du die Hochzeit nicht verhindern«, sorgte er sich, aber ich winkte ab.
    »Mir ist da eine Idee gekommen, als ich den Strauß gesehen habe. Kennst du diese Blumen?«, fragte ich. Jonathan schüttelte den Kopf und wollte danach greifen. »Fass sie lieber nicht an!«, warnte ich ihn, »die sind hochgiftig!« Jonathan zog rasch die Hand weg und sah mich verständnislos an.
    »Offenbar hast du genauso wenig Ahnung von Blumen und Kräutern wie die Zwerge. Bei ihnen ist es aber auch kein Wunder, wenn sie dauernd hier unten herumhängen, wo nichts wächst«, erläuterte ich. »Aber das ist unser Glück, denn mit Hilfe meines Hochzeitsstraußes bereiten wir Laurin und dieser ganzen verdammten Zwergengesellschaft ein Essen, das sie so schnell nicht vergessen werden. Falls sie es überleben, versteht sich«, sagte ich und testete aus den Augenwinkeln Jonathans Reaktion.
    »Du willst die Zwerge … vergiften?«, versicherte er sich ungläubig.
    Ich nickte entschlossen. Er schwieg kurz, dann sah er mir in die Augen. Ich erwartete eine Moralpredigt, von wegen zehn Gebote, du sollst nicht töten und so weiter. Sicher kannte Musterknabe Jonathan sie genau wie Moses in der korrekten Reihenfolge auswendig. Er hatte irgendwie so einen moralischen Zug um den Mund.
    »Das ist ein ausgezeichneter Plan, Emma. Du bist wirklich klug«, sagte er und lächelte. Mir fiel die Kinnlade herunter, aber nur kurz. Dann machte sich ein wildes Triumphgefühl in meinem Bauch breit. Ich lachte befreit, das erste Mal, seit ich hier unten war. Jonathan allerdings sah mich nur stumm an.
    Mir blieb das Lachen im Hals stecken. »Was ist?«, fragte ich, unsicher geworden.
    Jonathan sah schnell weg und biss sich auf die Lippen. War er etwa verlegen? »Wenn du lachst, bist du noch schöner«, murmelte er, und jetzt wurde
ich
rot.
    »Danke«, nuschelte ich, ohne ihn anzusehen.
    »Verzeihung. Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, sagte er. »Aber du hast mich gefragt, also …« Er verstummte kurz, dann setzte er noch hinzu: »Ich bin sicher nicht der Erste, der dir ein Kompliment macht, ist es nicht so?«
    Nein, dachte ich, aber die anderen Typen hatten erstens nicht so gut ausgesehen, und zweitens war immer klar, dass deren Schmeicheleien nicht ohne Hintergedanken waren. Bei Jonathan hatte ich das Gefühl, er wäre anders. Auf mich machte er nicht den Eindruck eines Casanovas, der eine Frau nur als Trophäe benutzte. Auch wenn ich ihn kaum kannte und er sich hier unten zwischen lauter brutalen Zwergen sicher nicht in der Position befand, in der er sonderlich viele Mädchen hätte anbaggern können. Trotzdem wurde mir bei seinen Worten warm vor Freude.
    »Ich finde es schön, was du gesagt hast, Jonathan«, wich ich seiner Frage aus.
    »Welche meiner Worte meinst du?«, neckte er mich, »dass du schön oder klug bist?«
    Ich musste grinsen. »Beides«, erwiderte ich überzeugt, und jetzt lachte auch er. Ein paar lange Sekunden schwiegen wir, aber es war keine unangenehme Stille. Sie webte ein unsichtbares Band zwischen uns, fein wie Spitze und ebenso zart. Ich war sicher, Jonathan spürte es auch.
    »Wie willst du das mit dem Gift eigentlich bewerkstelligen?«, wollte er schließlich wissen. »Laurin wird bemerken, wenn die Blumen mit einem Male nicht mehr da sind.«
    Ich ging zu dem Strauß und begutachtete ihn aus respektvoller Entfernung. »Ich brauche nur die Blätter«, erklärte ich. »Zwei von ihnen reichen, um einen ausgewachsenen Mann zu töten. Und mit dieser Ausbeute hier schaffen

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