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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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exakten Knock-out. Ohne einen Laut kippte Jonathan zur Seite und schlug auf dem Boden auf. Sofort wollte ich zu ihm laufen, doch die stählerne Zwergenklaue der zweiten Frau hielt mich fest. Heftig versuchte ich mich zu befreien. »Ihr miesen alten Vetteln«, schrie ich, doch genauso gut hätte ich die Wand anbrüllen können, denn die Zwerginnen stellten sich taub. Stattdessen schälten sie mich gewaltsam aus den Ärmeln meines Wanderhemds, so dass ich nur noch in einem dünnen Shirt und BH dastand. Hasserfüllt funkelte ich die beiden an, aber ich war machtlos.
    Auffordernd hielt die Zwergin mir das Kleid hin. Abwehrend drehte ich den Kopf weg, und mein Blick fiel auf den Tisch. Dort lagen die Blumen, hingeworfen von einer der Gnominnen. Die Kelche erinnerten an Glockenblumen, nur waren ihre Blüten knallrosa und wiesen eine Art Tigermuster im Inneren auf. Wie der Hut von Boy George, dem exzentrischen Sänger von Culture Club auf dem
Bravo
-Poster, das ich bei meinem Praktikum in einem der Klassenzimmer hängen gesehen hatte, dachte ich flüchtig. Und in diesem Moment rastete das fehlende Rädchen ein. Hut – Fingerhut! Das, was da vor mir lag, war Roter Fingerhut!
    »Digitalis. Hübsch anzusehen, aber extrem giftig. Eine winzige Menge von seinen Blättern genügt, und du kannst ›Stairway To Heaven‹ wörtlich nehmen«, hörte ich in Gedanken Caros Stimme. Sie hatte mir das Gewächs einmal in einem ihrer Pharmaziebücher gezeigt. In minimaler Dosis wurde es bei Herzschwäche verwendet. Ich hatte mir das damals nur gemerkt, weil ich es faszinierend fand, dass eine Pflanze gleichzeitig heilen und töten konnte. Und mit einem Mal wusste ich, wie ich mich vielleicht retten konnte. Aus den Augenwinkeln stellte ich fest, dass Jonathan noch nicht wieder bei Bewusstsein war. Mit ihm konnte ich also nicht rechnen. Mist.
    Wenn ich die Hochzeit schon nicht verhindern konnte, musste ich für mein Vorhaben wenigstens Zeit schinden. Als hätte sie meinen Plan durchschaut, deutete die Zwergin auf das Kleid in ihrer Hand und fauchte: »Nun, was ist?«
    »Das werdet ihr mir büßen«, dachte ich verbissen, aber mir blieb nichts anderes übrig, als es mir überzustreifen. Der Ärmel war etwas eng, und ich kämpfte mit dem Stoff. Auf einmal hörte ich ein Ächzen, das vom Fußboden kam: Jonathan war endlich wieder aufgewacht und richtete sich benommen auf. Sein Gesicht war noch blasser als sonst, nur auf seinem Kinn leuchtete ein brandroter Kreis. Die Blicke der Zwerginnen wandten sich misstrauisch zu ihm, und einen winzigen Moment waren beide abgelenkt.
    Blitzschnell fasste ich das Kleid mit beiden Händen zwischen Kragen und Ärmel und zog. Ein reißendes Geräusch ertönte, und die beiden Gnomenfrauen fuhren herum. Fassungslos glotzten sie auf den tiefen Riss, der nun in dem silberweißen Stoff klaffte. »Ups, das tut mir aber leid«, sagte ich, wobei ich mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen konnte.
    Die Augen der einen verengten sich. Sie holte aus, doch bevor sie zuschlagen konnte, begann ich aus Leibeskräften zu schreien. »Mein Kleid! Ihr habt mein Kleid zerstört, wehe euch!« Die beiden erstarrten zu Zwergenskulpturen.
    Da hörte ich auch schon hastige Schritte sich nähern, und im nächsten Moment stand König Laurin höchstpersönlich in der Küche. Anklagend hielt ich ihm das zerrissene Stoffstück unter seine Rübennase. »Sie waren grob zu mir und haben dabei auch noch das Gewand zerrissen«, jammerte ich.
    Laurins sowieso schon furchterregendes Gesicht verzog sich zu einer noch schrecklicheren Grimasse. »Herr«, winselte eine der Zwergenfrauen, während die andere einfach nur stumm und entsetzt dastand. Doch Laurin betrachtete den Riss im Stoff und fletschte vor Wut seine gelben Zahnstümpfe. Ich sah lieber nicht so genau hin.
    »Ihr dummen Weiber! In zwei Stunden geht die Sonne auf. Bis dahin habt ihr das Kleid geflickt, und wenn euch dabei die Finger bluten! Hört ihr?«, schrie der König seine beiden Untergebenen wutentbrannt an. Die nickten demütig, obwohl mir die eine einen hasserfüllten Blick zuwarf.
    Laurin bemerkte ihn offenbar, denn er bellte: »Albin, Hugbert! Verbringt diese beiden ungeschickten Dinger in die Gefangenenhöhle. Dort sollen sie eingesperrt bleiben und so lange nähen, bis das Gewand makellos ist!« Anscheinend hatten die Angesprochenen vor der Tür gelauert, denn in Rekordgeschwindigkeit waren sie bei den Zwerginnen und stießen sie grob nach draußen. Nicht ohne das Kleid

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