Die gestohlene Zeit
ernst und machte einen Schritt auf Jonathan zu. Drohend hob er die geballte Faust.
»Untersteh dich!«, rief ich und stellte mich dazwischen, »oder ich erzähle eurem Herrscher, ihr hättet mich verprügelt! Laurins Rache wäre fürchterlich«, setzte ich vorsichtshalber noch nach.
Der bucklige Fiesling schnaubte gereizt, ließ aber immerhin die Hand sinken und zischte Jonathan nur zu: »Du dummer Menschling, hüte dich! Noch ein solch törichter Vorschlag, und du wirst in den Rauchfang gehängt, ehe wir dich aufschlitzen und dem König zum Abendmahl servieren!«
»Ach, halt doch den Rand«, murmelte ich wütend.
Der zweite Zwerg warf mir einen heimtückischen Blick zu, dann wandte er sich endlich seinem Pergament zu. Er räusperte sich gewichtig. »Hier nun das Rätsel unseres verehrten, geliebten Königs Laurin, Herrscher über das Zwergenvolk und einen … äh … zwei Menschlinge …« Er machte eine Kunstpause, dann deklamierte er: »Zwei aus unserem Volk bewachen zwei Türen. Die eine führt in die Freiheit, wählst du jedoch die andere, wirst du unser Gefangener bleiben. Du darfst nur eine einzige Frage stellen, um den Weg in die Freiheit zu finden. Jedoch lügt einer der Wächter stets, und der andere sagt die Wahrheit. Wie also lautet deine Frage?«
Der Zwerg verstummte. Eine erwartungsvolle Stille machte sich in der Küche breit. Mir schwirrten die kryptischen Worte im Kopf herum, und alles, was mir dazu einfiel, war: »Hä?«
Rätsel waren noch nie meine Stärke gewesen, und auch hier verstand ich nur Bahnhof. Irritiert sah ich zu Jonathan hinüber. Der hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte zu Boden.
»Wir warten, Menschenbengel«, sagte der Vorleser hämisch. Jonathan hob nicht einmal den Blick, sondern verharrte in seinem Schweigen.
»Einer, zwene, driu«, zählte der andere Zwerg schadenfroh. Obwohl er eine altertümliche Sprache verwendete, war mir klar: Die Zeit, das Rätsel zu lösen, war abgelaufen. Tatsächlich rollte der Erste die Papierrolle zusammen, und mit einem verächtlichen Blick zu Jonathan stapften die beiden hinaus.
Ich wartete, bis die Tür hinter ihnen zugefallen war, dann wandte ich mich um. »Was war das denn?«, wollte ich wissen. Jonathan seufzte. »Drei Mal hat mir König Laurin nun bereits eine Rätselfrage gestellt. Die richtige Antwort würde meine Freiheit bedeuten, die falsche … nun, du hast es selbst gesehen. Bisher hatte ich jedenfalls nie die Lösung parat«, gab er zu.
»Kein Wunder«, meinte ich. »Das sind aber auch Scheißfragen … ich meine«, korrigierte ich mich hastig, weil Jonathan die Stirn runzelte, »die Fragen sind sehr schwer. Mit dieser zum Beispiel konnte ich überhaupt nichts anfangen. Wie hätte da die Lösung lauten sollen?«
Jonathan zögerte einen Wimpernschlag, dann sagte er leise: »›Wenn ich die Freiheit will, welchen Weg würde mir der andere weisen?‹«
Ich sah ihn verständnislos an. »Das weiß ich doch nicht!«, sagte ich. Jonathan lächelte leicht. »Es war keine Frage an dich, sondern des Rätsels Antwort. Der Weg, auf den der Zwerg, dem ich diese Frage stellen würde, zeigt, ist stets der falsche!«
Ich war nun völlig verwirrt. »Wieso das denn?« Erneut huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, bevor er wieder ernst wurde.
»Der Zwerg, der die Wahrheit sagt, weiß, dass mich der Lügner durch die falsche Tür gehen lassen würde. Darum weist er auf den falschen Weg. Derjenige dagegen, der lügt, weiß aber um die Wahrheit, die mir der andere sagen würde. Weil er lügt, würde er mir aber den falschen Weg weisen. Daher müsste ich stets den anderen Weg gehen als den ausgewiesenen!«
Ich brauchte eine geschlagene Minute, ehe ich die Lösung kapierte. Und eine weitere, bis mir klarwurde, was das bedeutete.
»Du hast die Antwort gewusst und den Zwergen nichts gesagt?«, rief ich ungläubig. »Aber … warum denn nicht? Dann hätte der König dir die Freiheit schenken müssen, das wäre deine Chance gewesen! Wer weiß, ob so eine Gelegenheit noch mal wiederkommt!«
Ich konnte es nicht fassen. Da öffnete sich Jonathan, im wahrsten Sinne des Wortes, die einzige Tür nach draußen – und er blieb einfach davor stehen, bis sie wieder zufiel!
»Zum einen bin ich mir nicht sicher, ob König Laurin Wort halten würde oder sich nur einen grausamen Scherz mit mir erlaubt. Und …« Er zögerte kurz, ehe er fortfuhr: »Meine Freiheit hätte bedeutet, dich hier deinem Schicksal zu überlassen,
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