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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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beschloss ich, den Text Zwergen-affin leicht abzuändern.
    »Also gut«, sagte ich entschieden zu Laurin. »Aber es ist ein Trinklied. Und ihr alle müsst mitmachen«, rief ich in die versammelte Runde. Die Gnome grinsten und hoben erwartungsvoll ihre Krüge. Ab jetzt gilt es, dachte ich und holte tief Luft.
    »Eisgekühlter Met und Branntwein, Met und Branntwein eisgekühlt …«, legte ich los. Die Zwerge blickten erst ziemlich verwirrt drein, doch die einfache Melodie schien ihnen zu gefallen, denn nach und nach schlugen sie im Takt mit ihren Zinnkrügen auf den Eichentisch, so dass meine Stimme beinahe übertönt wurde.
    »Und dazu ein belegtes Brot mit – Hühnchen«, grölte ich in ansteigender Lautstärke mit Blick auf das bedauernswerte Federvieh, das ahnungslos im Stroh scharrte. »Hühnchen!!«, echoten die Gnome begeistert.
    Im Türspalt zur Küche sah ich Jonathans fassungsloses Gesicht auftauchen. Mit ungläubigem Blick verfolgte er meinen Auftritt, doch ich hatte keine Zeit, ihm zu signalisieren, er solle sich keine Sorgen machen. Ich musste eine Horde trinkfreudiger Zwerge bei Laune halten.
    »Ein belegtes Brot mit Ei!«, intonierte ich mehr schlecht als recht und fuchtelte herum wie ein Volksmusikdirigent beim Musikantenstadl. »Ei, Ei, Ei«, tönte es zurück.
    »Und dazu eisgekühlter Met und Branntwein«, schrie ich mehr, als ich sang, und machte eine auffordernde Bewegung. Unisono leerten die Zwerge ihre Krüge auf ex und fingen an, dieselbe Liedzeile zu johlen. Immer schneller wurden die Krüge nachgefüllt, auch der des Königs. Zunehmend hastiger wurde Met in die Zwergenkehlen geschüttet. Inzwischen grölten die Zwerge völlig entfesselt ihre eigene Version des Liedes, während bereits ein neues Fass angestochen wurde. Auch Laurin hielt unverdrossen mit und kippte einen Krug nach dem anderen.
    Ich war vor zwei Jahren mal mit Caro beim Münchner Oktoberfest gewesen, doch was die Zwerge hier ablieferten, hätte sogar die trinkfesten Bayern vor Neid erblassen lassen. Ein paar der Gnome hatten inzwischen zu tanzen begonnen und schlugen sich gegenseitig erst die Hände auf die Schultern und dann die Krüge auf die Köpfe. Langsam artete das Ganze zu einer handfesten Prügelei aus. Laurin saß auf seinem Thron, trank und blickte wohlwollend auf seine Untertanen, die sich gegenseitig durch die Gegend warfen, mit den Köpfen zusammenstießen oder im verbitterten Ringkampf verknäult über den Boden rollten. Diejenigen Hühner, die ihr Leben noch nicht im Bräter beendet hatten, stoben hysterisch gackernd auseinander.
    Ich sah dem verrückten Schauspiel zu und wartete ungeduldig, dass die verdammten Gnome nun endlich müde wurden. Leider war das Gegenteil der Fall. Je mehr sie intus hatten, desto aufgedrehter wurden sie. Verzweifelt musste ich mir eingestehen: Jonathan hatte recht gehabt. Mein ganzer Plan löste sich in seine Bestandteile auf und wirbelte davon wie Asche im Wind.
    Aber es kam noch schlimmer. Plötzlich stand Laurin von seinem Thron auf. Er schlug mit seinem Krug auf die Gebeine der Rückenlehne. Bei dem knöchernen Klang hörten die Zwerge schlagartig auf, sich zu raufen. Alle Blicke wandten sich erwartungsvoll dem König zu. Der machte eine ungraziöse Verbeugung in meine Richtung.
    »Holde Similde. Du hast wahrhaftig bewiesen, dass du mein Zwergenvolk vorzüglich zu amüsieren weißt. Dafür möchte ich dir danken …«
    Prima, dann fall bitte auf der Stelle tot um, dachte ich, doch Laurin fuhr fort: »Daher habe ich einen Entschluss gefasst …« Er machte eine Pause und blickte mich bedeutungsvoll an.
    Mir wurde flau im Magen. »Die Hochzeit wird bereits morgen nach Sonnenaufgang sein!«, ließ Laurin die Katze aus dem Sack. Das letzte Wort ging beinahe im frenetischen Jubel der Zwerge unter. Das Licht der Pechfackeln verschwamm zu einem wabernden, orangegrauen Fleck. Ihr Ruß schien in meine Nase zu dringen, sich als schwarzer, klebriger Film auf meine Lunge zu legen und machte mir das Atmen unmöglich. Danach wusste ich nichts mehr, denn mir wurde schwarz vor Augen.

[home]
    Kapitel 5
    I ch erwachte von einem leichten, blumigen Duft. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief ein, und Erleichterung durchströmte mich wie Rosenwasser. Rosen, das war das Stichwort, genau danach roch es. Das bedeutete, ich war nicht in einer unterirdischen Höhle, bei den hässlichen, stinkenden Zwergen. Ich lag in einem wunderschönen Garten voller Blumen, draußen unter blauem Himmel! Das alles

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